Der Name von Mechterstädt, einem Dorf in Thüringen, etwa 180 km von Marburg entfernt, ist mit der Geschichte der Philipps‐Universität Marburg im 20. Jahrhundert untrennbar verbunden. Als Morde von Mechterstädt wird das Massaker an 15 thüringischen Arbeitern auf der Straße von Mechterstädt nach Gotha durch das Studentenkorps Marburg am 25. März 1920 bezeichnet. Über die Reaktionen in Presse und Politik vertiefte die Bluttat die Entfremdung zwischen weiten Teilen der Studentenschaft, den Verfechtern der Republik und der linksorientierten Arbeiterschaft.
Am 13. März 1920 brachte der von rechts angezettelte und gegen die Demokratie von Weimar gerichtete Kapp-Putsch die junge Republik ernsthaft in Gefahr. Anderthalb Jahre nach dem Ende des Kaiserreichs hatten Teile der Reichswehr Sympathie mit den Putschisten, andere verhielten sich abwartend. Doch löste der Putsch Streiks und Unruhen unter der Arbeiterschaft aus. In Mitteldeutschland dauerten sie fort, als der gewaltsame Regimewechsel am 18. März vereitelt worden war (siehe Internet "Kapp-Putsch in Thüringen"). die Reichswehrführung zog zu ihrer Bekämpfung auch Freiwillige heran, die die legitime regierung verteidigenden Truppen unterstützen sollten.
In Marburg, unter dessen Universitätsangehörigen Korporierte einen hohen Anteil erreichten, hatte sich im Herbst 1919 auf Betreiben der Kasseler Reichswehrleitung das Studentenkorps Marburg (StuKoMa) gebildet. Schon einige Monate zuvor waren Verbindungsstudenten aus der örtlichen Garnison heraus mit Waffen ausgerüstet worden – unter dem Vorwand, dass ein Angriff von kommunisten auf Marburg unmittelbar bevorstünde. am 13. März 1920 stellten sich einige Marburger Korporationen mit einem Flugblatt auf die Seite der Berliner Putschisten. Ihren rührigen und einflussreichen Anführer fanden die radikalnationalistischen Gruppen des StuKoMa in dem vormaligen Fregattenkapitän Bogislav von Selchow, der seit 1919 an der Philipps-Universität studierte. Am 16. März wurde v. Selchow von den Gegnern der Republik damit beauftragt, Kurhessen in seine Gewalt zu bringen. Planspiele für eine Besetzung Marburgs kamen jedoch nicht zur Ausführung.
Das Eintreten der Marburger Korporationen für die Putschisten trug dazu bei, die politischen Gegensätze in der Universitätsstadt zu vertiefen. Am 15. März, einem Montag, wurde auf einer Versammlung von mehreren Hundert Teilnehmern im Marburger Schlossgarten ein „ 24-stündige[r] Sympathiestreik für die Republik“ verkündet. Tags darauf rief an gleicher Stelle der linke Stadtrat Bruno Poersch dazu auf, „mit allen zu Gebote stehenden Mitteln für die Erhaltung der Republik einzutreten, im übrigen aber Ruhe und Ordnung zu bewahren“. Nach ihm redete der Student Ernst Lemmer. Ein Demonstrationszug von mehreren Tausend Personen begab sich daraufhin zum Kämpfrasen bei den Kasernen und von dort zum Marburger Hauptbahnhof. Die für den Abend von der Rechten angestrebte Kundgebung auf dem Markt wurde verboten. Stattdessen trafen sich Gewerkschaftsvertreter in den Stadtsälen und beschlossen, dass die Arbeit am folgenden Tag „unter der Bedingung“ wieder aufgenommen werde, dass „die Waffen aus den Korpshäusern entfernt würden“. Eine Kommission der republiktreuen Parteien fuhr nach Kassel, um mit Regierungs- und Militärbehörden darüber zu verhandeln; durchsetzen konnten sie sich nicht. Unterdessen fanden sich diejenigen, welche wieder arbeiten wollten, am 17. März – etwa von der Tapetenfabrik Schaefer – ausgesperrt.
Nachdem der rechte Putsch-Versuch infolge des größten Generalstreiks in der deutschen Geschichte gescheitert war, zog sich v. Selchow am 19. März zunächst zurück. Nur Stunden später ließ der u.a. für Marburg zuständige Militärbefehlshaber einen Aufruf plakatieren, wonach in Thüringen Aufstand sei und „bewaffnete Banden […] raubend und plündernd“ durch das Land zögen. Demnach galt es, die staatliche Ordnung rasch wieder herzustellen.
vor allem in Thüringen wurde der Arbeitskampf fortgesetzt, was erhebliche Auseinandersetzungen zwischen Arbeiterschaft und der Reichswehr nach sich zog. Beim Vorgehen gegen linke Kräfte konnte sich die Reichswehr der Loyalität ihrer Zeitfreiwilligen sicher sein. Zu denen, welche die Reichswehr unterstützen sollten, gehörte das Studentenkorps Marburg. Seine insgesamt rund 1800 Männer sammelten sich am folgenden Tag und stellten sich zur Verfügung, um nach Thüringen zu ziehen. Der Zeitfreiwilligen-Verband war in zwei Bataillone mit jeweils fünf Kompanien aufgeteilt und der von Generalmajor Hermann Rumschöttel befehligten Reichswehr-Brigade 11 zugeordnet. Die Kompanien orientierten sich an den Korporationen. nichtkorporierte brachten es auf ein Drittel der Mitglieder. Die Marburger Kampftruppe von schlagenden und nichtschlagenden Korporationen, die gemeinsam gegen den Feind marschierten, schloss Sozialisten, demokraten und auch die nationalkonservative jüdische Studentenverbindung „Hassia“ grundsätzlich von der Beteiligung aus. So sollten ausgerechnet jene, die eine Woche zuvor in Marburg die Gelegenheit ungenutzt gelassen hatten, sich dem Putsch tatkräftig anzuschließen, nun die in Weimar begründete Republik schützen!
Adjutant des StuKoMa-Anführers v. Selchow war der spätere führende Rassenhygieniker Otmar Freiherr von Verschuer. Weitere Mitglieder waren dessen Kollege Heinrich Wilhelm Kranz, der spätere Archivar und SS-Sturmbannführer Karl August Eckhardt, der spätere nationalsozialistische Polizeipräsident von Altona und Wuppertal Paul Hinkler sowie der Student der Zahnmedizin Karl Schaumlöffel. Republiktreue Studenten (darunter Lemmer, Gustav Heinemann, Wilhelm Röpke und Viktor Agartz) bildeten ihrerseits eine Volkskompanie mit 80 Angehörigen, darunter auch die Mitglieder der „Hassia“, die sich dem Studentenkorps nicht hatte anschließen dürfen.
Anlässlich des Ausmarschs der studentischen Zeitfreiwilligen schien dem Universitätsrektor Wilhelm Busch, dass an diesem 20. März der gleiche Geist herrschte wie im Herbst 1914. Gekränkt erinnerte er an die „Schmähungen und Vorwürfe“, denen Marburgs Studenten „noch kurz vorher ausgesetzt waren“ – ihr Paktieren mit den Putschisten ließ er unerwähnt. Vielmehr verherrlichte er in seiner Ansprache die Opferbereitschaft seiner Studenten und erklärte: „Selbstlos haben sich Marburgs Studenten sofort zum Schutze der Regierung der deutschen Republik und zur Wiederherstellung von Ruhe und Ordnung zur Verfügung gestellt.“ Dafür sei ihnen der „Dank aller rechtlich Denkenden […] gewiß“. Doch es sollte anders kommen.
Aus der zum Landkreis Gotha gehörigen Ortschaft Thal war ein Aufruhr gemeldet, über die Bildung einer „roten Brigade“ berichtet worden. Verdächtige hätten sich Schusswaffen besorgt, es sei zu Lebensmitteldiebstählen und Plünderungen gekommen. Am 24. März 1920 besetzte ein Trupp des Marburger Studentenkorps die Gemeinde Thal. Die Studenten nahmen 15 Arbeiter fest, die als „Vertrauenspersonen der Arbeiterschaft“ galten. Aus der Menge der listenmäßig erfassten 40 Verdächtigen wurden am Morgen des 25. März 1920 fünfzehn Personen – unter ihnen vier von sechs Gemeinderäten aus Thal – durch das Studentenkorps ausgesondert. Die meisten von ihnen waren nicht politisch aktiv gewesen. Den Verhafteten wurde vorgeworfen, sie rebellierten gegen die nach dem Kapp-Putsch wiederhergestellte staatliche Ordnung. Die Verhafteten sollten von einer Wachmannschaft zum Verhör nach Gotha gebracht werden, die aus neun Korpsstudenten und fünf Burschenschaftern bestand. Den Befehl über die Abteilung hatte Oberleutnant Rudolf Baldus (Corps Guestfalia). In Sättelstädt nachts ins Spritzenhaus eingesperrt, wurden die Gefangenen am 25. März frühmorgens gezwungen, sich dem Marsch nach Gotha anzuschließen. Im dichten Nebel fielen fünfzehn tödliche Schüsse. Rechtsmediziner stellten bei 13 der 15 Leichen fest, dass ihnen aus nächster Nähe von vorne in den Kopf geschossen wurde.
(Text Geschichtswerkstatt Marburg e. V., Dr. Klaus-Peter Friedrich)