„Gemeindeschwester – diesen Begriff kennen viele von uns noch aus anderen Zeiten. Das war bis etwa zum Ende der 1980er Jahre quasi die gute Seele eines kleinen Ortes, die alle kannten und die half, wo sie gebraucht wurde. Häufig waren es gelernte Krankenschwestern, die kamen, wenn sie gerufen wurden“, blickte Oberbürgermeister Dr. Thomas Spies auf die Geschichte der „Gemeindeschwester“ zurück. Den Beruf gibt es heute nicht mehr, wohl aber eine Neuauflage der Funktion – um eine Angebotslücke zu schließen, nämlich zwischen sozialer und gesundheitlicher Unterstützung für ältere Menschen, die keine Leistungen aus der Pflegekasse beziehen. „Dabei legen wir den Fokus darauf, dass aus mehr (Lebens-) Jahren auch mehr gute Jahre werden“, sagte der OB.
Dabei ist die „Gemeindeschwester 2.0“ eine „Soziallotsin“, die gern kommt, wenn sie gerufen wird. Moderne Gemeindeschwestern verstehen sich als Begleiterinnen, Unterstützerinnen und Netzwerkerinnen, berichteten Marburgs Gemeindeschwestern. Dabei begleiten sie in der Beratung und in Lebenssituationen, aber nicht etwa zum Arzt oder zu Veranstaltungen. Für die ländlichen Außenstadtteile sind die Soziallotsinnen Sina Gattinger, Martina Heinzer und – seit Jahresbeginn – Silke Plessl. Spies begrüßte die 46-Jährige, die nun das Marburger Gemeindeschwester-Team komplettiert. „Wir freuen uns sehr, dass Sie nun vor Ort in den Stadtteilen mit dabei sind und uns bei unserem Anspruch unterstützen, dass niemand allein gelassen wird“, sagte der OB, dem das Projekt sehr am Herzen liegt. Daher sei er besonders dankbar dafür, dass es nun drei Menschen gibt, „die mit Engagement, Zuwendung und Liebe dabei sind“.
Das gehört zum Konzept von „Gut Älterwerden in Marburg“. „Durch die 2010 geschaffene Altenplanung sowie das Beratungszentrum BiP ist in Marburg „Gut Älterwerden“ eine zentrale Aufgabe von Politik und Verwaltung“, erläuterte der OB. „In diesem hessenweit einmaligen Kooperationsprojekt BiP arbeiten verschiedene Anbieter eng zusammen“, berichtete Dr. Petra Engel, Leiterin des Fachdienstes Altenplanung, und nannte als Beispiele das Pflegebüro und die Altenhilfe/Seniorenbeirat, die Alzheimer Gesellschaft, die Freiwilligenagentur, den Marburger Betreuungsverein SuB sowie den Pflegestützpunkt des Landkreises. Ratsuchende können für Information und Beratung zum BiP kommen – die Gemeindeschwestern kommen kostenlos zu Sprechstunden in die Stadtteile und auf Wunsch zu den Ratsuchenden nach Hause.
Sie vermitteln Begegnung oder Hilfe, wenn Bedarf besteht. Sie bieten individuelle und passgenaue Empfehlungen und geben Tipps zu sozialer Teilhabe, Wohnen und Gesundheit. Ohne Zeitdruck können ältere Menschen mit ihnen ihre Lebenssituation besprechen, von ihren Bedürfnissen, Anliegen und Sorgen berichten, persönlich oder telefonisch. Im Gegensatz zu früheren Gemeindeschwestern übernehmen sie keine pflegerischen und bürokratischen Hilfen.
Dabei ist Sina Gattinger in den westlichen Stadtteilen Marburgs tätig – Cyriaxweimar, Dagobertshausen, Dilschhausen, Elnhausen, Haddamshausen, Hermershausen, Michelbach und Wehrhausen. Die 41-Jährige ist staatlich anerkannte Erzieherin absolviert aktuell eine Ausbildung zur Trauerbegleiterin. Sie engagiert sich seit vielen Jahren ehrenamtlich in der Kinder- und Jugendarbeit und lebt mit ihrer fünfköpfigen Familie in einem Ortsteil von Lohra. „Ich unterstütze und begleite mit Freude Ältere bei den Herausforderungen des Lebens“, sagte sie. Die Aufgabe erfülle sie. Besonders positiv hob sie einen Aspekt der Arbeit hervor: „Wir haben einfach Zeit für die älteren Menschen.“ Das sei etwas, das viele schon gar nicht mehr kennen – dass jemand einfach da ist und in Ruhe zuhört, um gemeinsam Wege und Lösungen zu finden.
Martina Heinzer ist Ansprechpartnerin für die östlichen Außenstadtteile – Bauerbach, Ginseldorf, Moischt und Schröck.
Die Krankenschwester mit jahrelanger Berufs- und Beratungserfahrung hat ihre Fortbildung zur Wohnberatung abgeschlossen. Die 57-Jährige lebt mit ihrer Familie in Niederweimar. Sie berät gerne Ältere, „um deren Alltag zu erleichtern“, sagte sie. Dabei sei es ihr ein Anliegen, „dabei zu helfen, drohende Isolation möglichst zu vermeiden“. Für die Tätigkeit als Gemeindeschwester sei vor allem Empathie-Fähigkeit wichtig, das Einfühlvermögen in die Bedürfnisse und Belange der älteren Menschen. „Für viele ist es gar nicht so einfach, Hilfe in Anspruch zu nehmen“, weiß sie.
Silke Plessl verstärkt das Team der „Gemeindeschwestern 2.0“ seit Anfang des Jahres und wird ebenfalls in den westlichen Stadtteilen tätig sein. Als Familienlotsin arbeitete sie aufsuchend mit jungen Familien und steht am Ende ihres Studiums der Sozialen Arbeit.
Die 46-Jährige lebt mit Familie und Tieren in Großseelheim. „Ich freue mich auf Kontakte mit Älteren, besonders in der aktuell schwierigen Zeit“, sagte sie. „Das ist das Besondere an den drei Gemeindeschwestern – jede von ihnen bringt besondere spezifische Kenntnisse mit, die Themen bewegen, die die älteren Menschen wegen, etwa die Alltagsgestaltung, Wohnberatung oder Trauer-Verarbeitung. Oder eben Erfahrung mit aufsuchender Arbeit“, fasste Dr. Petra Engel zusammen.
Die Soziallotsinnen nannten Beispiele für Fragen, die häufig an sie gerichtet werden – wie etwa von Älteren, die sich nach einer abgeschlossenen Lebensphase neu orientieren möchten oder isoliert fühlen und mehr Begegnung und Teilnahme am Leben wünschen. Häufig seien auch Fragen, wie der Wohnraum an die veränderten Bedürfnisse angepasst werden kann, oder wie hauswirtschaftliche oder pflegerische Unterstützung organisiert werden können. Viele treibt auch die Frage um, wie sich die gesundheitliche Situation verbessern beziehungsweise erhalten lässt oder wie Erkrankungen und Beeinträchtigungen vorgebeugt werden kann.
Neben der persönlichen Beratung stärken die Soziallotsinnen örtliche Angebote, bilden Netzwerke und arbeiten eng mit Ortsvorsteher*innen und Initiativen, Altenplanung, Pflegebüro, Pflegestützpunkt und „In Würde Teilhaben“, der Freiwilligenagentur und weiteren sozialen Dienstleistern und Organisationen zusammen. Und auch trotz der Corona-Pandemie geht die Arbeit der Gemeindeschwestern weiter. So wirkten sie beispielsweise bei der „Corona-Hotline“ mit, entwickelten in Kooperation mit dem Pflegebüro, „In Würde teilhaben“ und der „Gesunden Stadt“ die „Marburger-Mut-Mach-Tüte“, bieten Gespräche auf Abstand beziehungsweise im Freien und erstellten Begleithefte für Senior*innen in den westlichen und östlichen Stadtteilen, um eine rasche Übersicht über bestehende Angebote zu geben.
Dies ist ohnehin ein Kennzeichen von „Gut Älterwerden“ in der Universitätsstadt: „Wir lassen uns immer etwas einfallen, um gemeinsam mit vielen älteren Menschen in Marburg zu signalisieren, dass sie wichtiges Glied der Gemeinschaft sind und nicht allein gelassen werden“, sagte Dr. Petra Engel und nannte einige Beispiele für Angebote vor und auch während der Corona-Pandemie: vielfältigste Aktivitäten in den Stadtteilen, etwa Balkon-Gespräche, liebevolle Postsendungen, ein wanderndes Tagebuch oder Musik in der Straße.
Daneben haben Altenplanung und weitere Initiativen neue und seniorengerechte digitale „Gehversuche“ unternommen. Weitere Angebote sind die Corona-Nachbarschaftshilfe und das „Offene Ohr“ als Gesprächsmöglichkeit am Telefon. Die enge Zusammenarbeit zwischen örtlich Engagierten und dem BiP mache sich jetzt ganz besonders bezahlt, sagte Engel und ergänzte: „Telefonische Beratungen und Gespräche sind weiterhin und gerade jetzt möglich, sowie in besonderen Situationen auch Hausbesuche der Gemeindeschwestern – unter Einhaltung der geltenden Hygienemaßnahmen.“
Der Schwung zum Engagement von, mit und für Ältere ist auch im Jahr 2021 ungebremst. So gaben die Soziallotsinnen abschließend noch einen Ausblick auf die Arbeit im aktuellen Jahr: So sind etwa regelmäßige Sprechstunden in den Außenstadtteilen in Vorbereitung beziehungsweise werden wieder aufgegriffen, um die persönliche Kontaktaufnahme für Ratsuchende, Angehörige und Kooperationspartner*innen zu erleichtern. Es soll daran mitgearbeitet werden, die Mobilität für Ratsuchende zu verbessern. Außerdem sind Vorträge, Info- und Präventionsveranstaltungen, auch mit anderen Vereinen oder dem Pflegebüro, in der Senior*innenarbeit der Stadtteile vor Ort geplant.
Darüber hinaus soll es erneut einen Senior*innenbegleitkurs für Ehrenamtliche in Zusammenarbeit mit der Freiwilligenagentur geben, der bereits im vergangenen Jahr auf positive Resonanz und großes Interesse gestoßen ist. Doch vor allem wünschen sich die Soziallotsinnen eines: wieder die Möglichkeit, sich den älteren Menschen in den zwölf äußeren Stadtteilen persönlich vorstellen zu können – etwa bei Senior*innengymnastik oder Mittagstischen –, um sich noch mehr bekannt zu machen. Das ist eine wichtige Grundvoraussetzung für ihre Arbeit, denn: „Die älteren Menschen müssen sich an uns wenden, denn wir drängen uns niemandem auf oder klingeln auch nicht einfach an Haustüren.“
Hintergrund:
Im April 2019 startete das Pilotprojekt „Gemeindeschwester 2.0“ der Universitätsstadt in Kooperation mit der Altenplanung und der Marburger Altenhilfe St. Jakob, gefördert vom Hessischen Ministerium für Soziales und Integration im Rahmen der Offensive „Land hat Zukunft – Heimat Hessen“. Ziel ist es, dass ältere Menschen in den ländlichen Außenstadtteilen möglichst lange sozial intergiert in ihrer gewohnten Umgebung bleiben können. Dafür stehen ihnen die „Gemeindeschwestern 2.0“ zur Seite und vermitteln bei Bedarf auch weiter, etwa ans Beratungszentrum mit integriertem Pflegestützpunkt (BiP). Seit 2020 steht dieses Angebot für alle zwölf äußere Stadtteile mit dörflichem Charakter zur Verfügung. Für die Kernstadt gibt es ein Parallelprojekt in Kooperation mit „Arbeit und Bildung“, das sich „In Würde Teilhaben“ nennt. Erreichbar sind die Gemeindeschwestern kostenfrei und unverbindlich von Montag bis Freitag zwischen 9 und 13 Uhr sowie donnerstags von 14 bis 17 Uhr, telefonisch unter (06421) 201-1462 oder per E-Mail an gemeindeschwester@marburg-stadt.de.