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Reformationsroute

Alte Uni: Luther in Marburg

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Als die Reisekutsche von Martin Luther am 30. September 1529 über die Weidenhäuser Brücke durchs Lahntor rattert, wird der Reformator begeistert empfangen. Marburger Bürger und Studenten rennen auf die Straße, um den berühmten Reformator zu begrüßen, der von 40 hessischen Reitern geschützt wird. Gemeinsam mit Philipp Melanchthon hat er sich von Wittenberg auf den Weg zum Religionsgespräch gemacht. Landgraf Philipp hat ihn eingeladen, um den trennenden Abendmahlsstreit zwischen Luther und Zwingli zu befrieden. Damit will der Landesherr die reformatorische Bewegung stärken. Doch der eigenwillige Luther, der seinen Standpunkt eigentlich nicht diskutieren will, kommt nur widerwillig. Seine Gegenspieler, Huldrych Zwingli aus Zürich und Martin Bucer aus Straßburg, sind bereits seit drei Tagen da. Zwingli war vier Wochen lang unterwegs. Um den katholischen Häschern zu entgehen, musste er auf geheimen Wegen quer durch das Reich reiten.

Luthers Weg durch Marburg startet an der Alten Universität, die erst zwei Jahre zuvor eröffnete, heute älteste protestantische Universität der Welt. Damals studierten die Juristen in dem ehemaligen Kloster der Dominikaner. Heute residiert der Fachbereich Theologie in dem neugotischen Gebäude, das sich durch beeindruckende Kreuzgänge und eine prunkvolle Aula auszeichnet. Es wurde Ende des 19. Jahrhunderts auf den Grundmauern des Klosters errichtet.

Viele renommierte Theologen haben hier gelehrt: Besonders bekannt ist Rudolf Bultmann, der 30 Jahre lang in Marburg wirkte und sich gemeinsam mit seinem Kollegen Hans von Soden in der NS-kritischen „Bekennenden Kirche“ engagierte. Auch berühmte Studierende hat die Theologische Fakultät: Margot Käßmann, einstige Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland und Botschafterin für das 500-jährige Jubiläum der Reformation, ist in Marburg zur Schule gegangen und hat hier studiert.

Die mit der Alten Universität fast nahtlos verbundene Kirche der Dominikaner, die spätere Universitätskirche, stand schon zu Luthers Zeiten. Heute bereichern Studierende und Lehrende das Kirchenleben mit kreativen und experimentellen Ideen. Dorothee Sölle und Eugen Drewermann predigten hier schon, als sie noch richtig für Aufsehen sorgten.

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Markt: Von geistlichen Personen „belestigt“

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Beim steilen Anstieg in die Oberstadt ist Luther vermutlich aus seiner Kutsche gestiegen. Mit Sicherheit passierte er das Rathaus und den Marktplatz. Im heutigen Café am Markt – an dieser Stelle stand damals ein altes Patrizierhaus – hatte ein eigens aus Erfurt geholter Buchdrucker eine Druckerei eröffnet. Landgraf Philipp ließ hier schon 1527 Luthers Taufbüchlein und seine deutsche Übersetzung des Neuen Testaments für jede Kirche Hessens drucken.

Im benachbarten Rathaus hatten ihm die Ratsherren zwei Jahre zuvor den offiziellen Anlass geliefert, um Marburg zu einem Zentrum der Reformation zu machen und die Klöster zu enteignen. 1525 beschwerten sie sich darüber, dass ihre Stadt zuviel mit „geistlichen Personen belestigt“ sei, die keine Steuern zahlten und regelmäßig mit Wein versorgt werden wollten. Anstelle der drei Orden wollten sie einen evangelischen Pfarrer. 1527 hatten sie ihn. Unterdessen mussten Dominikaner, Franziskaner und Kugelherren ihre Klöster für die von Landgraf Philipp gegründete Universität räumen, die hier stattdessen lutherische Theologen und Beamte ausbildete.

Nur wenige Häuser weiter, an der Barfüßerstraße 48, erinnert ein Schild daran, dass Luther hier während des Religionsgesprächs gewohnt habe. Das stimmt allerdings nicht. In dem Eckhaus zum Schneidersberg – damals war dies der Gasthof „Zum Bären“ – hat er sich möglicherweise kurz aufgehalten, um sich zu stärken und sich auf die Audienz beim Landgrafen vorzubereiten. Schließlich hatte er den Staub seiner zweiwöchigen Reise in den Kleidern. Vielleicht hat er sich auch die brandneuen Gewänder angezogen, die ihm der Sachsenfürst eigens mitgegeben hatte. Gewohnt hat er aber im Marburger Landgrafenschloss – ebenso wie Huldrych Zwingli und Martin Bucer. Der Legende nach sollen diese übrigens auf der anderen Seite des Bärenbrunnens im Gasthaus „Zum Schwanen“ gewohnt haben. Das ist aber nun wirklich falsch.

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Lutherkirche: Keilerei in der Musterkirche

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Sie war die Musterkirche der Reformation für ganz Hessen: In der Kirche mit dem schiefen Turm predigte der Geistliche Adam Krafft als erster evangelischer Pfarrer Hessens und führte die lutherische Gottesdienstordnung ein. Über Jahrhunderte war die Lutherische Pfarrkirche St. Marien „die“ evangelische Stadtkirche Marburgs.

Sie war aber zugleich Schauplatz eines heftigen Kampfs zwischen Calvinisten und Lutheranern. 1604 – knapp 40 Jahre nach Philipps Tod – kam der calvinistische Landgraf Moritz von Hessen-Kassel an die Macht. Er musste zwar das lutherische Bekenntnis in seiner Grafschaft beibehalten, versuchte aber, die calvinistische Glaubenspraxis in Marburg einzuführen.

Doch die Bürger wollten sich das nicht gefallen lassen: Als am 6. August 1605 ein führender nordhessischer Theologe im Auftrag des Landgrafen vier „Verbesserungspunkte“ im Sinne der Calvinisten in der Pfarrkirche verkündete, probten die Marburger den Aufstand. Sie schrieen den Pfarrer nieder, läuteten die Sturmglocke und stürmten die Empore, wo die Delegation des neuen Landgrafen saß. Ein Pfarrer rettete sich mit einem beherzten Sprung aus der Höhe. Ein anderer wurde im Chor zwischen den Altären zusammengeschlagen und derart zugerichtet, dass er wie tot auf dem Kirchplatz liegenblieb. Studenten retteten den Schwerverletzten. Ein weiterer Geistlicher versuchte, sich ins Pfarrhaus zu flüchten. Doch die lutherische Pfarrfrau, deren Ehemann am Vortag abgesetzt worden war, wies ihm die Tür. Andere – von Handwerkern mit Beilen und Hacken verfolgt – versteckten sich in der Stadt.

Um für Ordnung zu sorgen, musste Moritz der Gelehrte persönlich an der Spitze einer Söldnertruppe nach Marburg einreiten. Angesichts der Machtverhältnisse unterwarf sich die Stadt. Bilder, Altartafeln, Kruzifixe und das goldene Triumphkreuz wurden zerschlagen und verbrannt, die Gottesdienste nach reformierter Weise gehalten. Bis heute zeugen Kerben an den Wänden von Gemälden, die Moritz’ Söldner abschlugen. Verschont blieben nur die Gräber der Landgrafen. Doch auf Dauer siegte die Stadt – schon eine Generation später setzte sich das lutherische Bekenntnis wieder durch.

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Schloss: Wie viel Leib ist im Brot?

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Das Ambiente hatte Landgraf Philipp klug gewählt: In der privaten Atmosphäre seiner Fürstenwohnung im Südflügel des Marburger Schlosses rangen die Kontrahenten vier Tage lang um das richtige Verständnis des Abendmahls. Dabei ging es vor allem um die Frage, wie die Worte „Das ist mein Leib“ zu verstehen seien. Huldrych Zwingli sah in Brot und Wein lediglich symbolische Zeichen, die daran erinnerten, dass Christus seinen Leib und sein Blut hingegeben hatte. Dagegen lehrte Luther, dass das Brot im Abendmahl zwar wie Brot schmecke und Brot sei. Es handele sich aber dennoch zugleich um den Leib Christi, der in Brot und Wein gegenwärtig sei.

Mal in Zweier-, mal in Vierergruppen, vor allem aber in Form einer „Podiumsdiskussion“ versuchten die Kontrahenten, ihren Streit zu klären. Mehr als 30 Geistliche, Staatsbeamte und Professoren waren dabei. Doch in der Grundsatzfrage konnten sich Luther und Zwingli nicht einigen. Immerhin unterzeichneten sie auf Vermittlung von Melanchthon, Bucer und Landgraf Philipp 14 Konsenspunkte. Es blieb die einzige persönliche Begegnung zwischen Luther und Zwingli.

Heute können Gäste den Ort des berühmten Marburger Religionsgesprächs quasi unter ihre Füße nehmen. Die früheren Privatgemächer des Landgrafen liegen ein Stockwerk unter dem für jeden geöffneten Rundgang. Dieser führt auch in die kleine Schlosskapelle mit ihren glasierten Tonfliesen und dem Kreuzrippengewölbe. Hier predigten sowohl Luther als auch Zwingli – allerdings ohne Abendmahl.

An der Nordwestseite des Schlosses steht der Hexenturm. Einst wurden hier auch Wiedertäufer inhaftiert, die im Reich gejagt und getötet wurden. Landgraf Philipp begnügte sich indes damit, die religiösen Fanatiker zu überzeugen oder des Landes zu verweisen. „Hexen“ gab es in seiner Amtszeit übrigens auch nicht. Vielleicht hatte er angesichts seiner ungewöhnlichen Anatomie – er hatte drei Hoden – und seines eigenen Lebenswandels – er führte zeitgleich Ehen mit zwei Frauen – mehr Verständnis für die Wege abseits der Norm.

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Elisabethkirche: Der goldene Schrein

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Den Reliquienkult um die heilige Elisabeth verbannte Landgraf Philipp zehn Jahre nach dem Religionsgespräch. Die im 13. Jahrhundert über dem Grab der heiligen Elisabeth errichtete Kirche zog nämlich zahlreiche Pilgernde an. Ihr Ziel: Die Gebeine Elisabeths, die in einem mit Hunderten von Edelsteinen besetzten, goldenen Schrein aufbewahrt wurden. Ihre Kirche hatte sich der Reformation widersetzen können, weil sie zum Deutschen Orden gehörte, der als reichsunmittelbare Einrichtung dem Kaiser unterstand.

Um die Pilger aus dem protestantischen Marburg zu vertreiben, inszenierte der Landgraf am 18. Mai 1539 einen aufsehenerregenden Besuch. Gegen den heftigen Protest des katholischen Landkomturs ließ er den kostbaren Schrein aufbrechen. Sein Statthalter sollte die darin enthaltenen Knochen eigentlich auf dem nahe gelegenen Pilgerfriedhof am Michelchen verstreuen. Dieser versteckte sie jedoch auf seiner Wasserburg in Wommen. Als Landgraf Philipp nach der Niederlage im Schmalkaldischen Krieg 1547 in kaiserliche Haft geriet, half ihm dies. Um wieder freizukommen, ordnete Philipp nämlich die Rückgabe der Gebeine an. Sie blieben jedoch nur kurz in Marburg. Bereits 1588 kamen sie zu den Klarissen nach Wien. Und heute liegen sie in einer Kapelle der Elisabethinen, einem Wiener Krankenpflegeorden.

Der wertvolle Schrein ist aber in der Elisabethkirche geblieben. Das Meisterwerk der Goldschmiedekunst ist bis heute der größte Schatz der Kirche. Zu bestaunen sind außerordentlich filigran gearbeitete Figuren und Szenen, die mit antiken Gemmen und kostbaren Edelsteinen geschmückt sind. Und heute gibt es auch wieder Pilgernde, die etwa auf dem Jakobsweg in Marburg Station machen.

Als älteste gotische Hallenkirche Deutschlands ist die Elisabethkirche ein Touristenmagnet: Jedes Jahr kommen rund 100 000 Menschen aus aller Welt, um das prächtige Gotteshaus mit den 80 Meter hohen Türmen zu bewundern. Neben dem Schrein gibt es das Mausoleum über dem Grab Elisabeths, das Elisabethfenster, die Grabmäler der hessischen Landgrafen sowie das Kruzifix von Ernst Barlach zu bestaunen.

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Barfüßerstraße 3a: Fußabtreter der Reformation

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Man sagt ihm nach, die mühselige praktische Arbeit der Reformation geleistet zu haben: Adam Krafft, Sohn eines Fuldaer Bürgermeisters, wurde 1525 von Landgraf Philipp zum Hofprediger berufen. Am Himmelfahrtstag 1527 hielt er den ersten evangelischen Gottesdienst in der Marburger Pfarrkirche. Und bald darauf schenkte ihm der Landgraf ein Stadthaus der Zisterzienser an der Barfüßerstraße, in das Krafft mit seiner Familie einzog. Er heiratete nach dem Tod seiner ersten Frau Agnes ein zweites Mal und hatte insgesamt zehn Kinder.

Adam Krafft war allerdings dauernd unterwegs: Er baute nicht nur die Universität auf und unterrichtete als Professor die künftigen Pfarrer. Er war auch für die praktische Umgestaltung des hessischen Kirchenwesens zuständig. Als Generalvisitator stellte er die Pfarreien vor Ort auf die evangelische Gottesdienstordnung ein. Er setzte schlechte Prediger ab und reformierte das Schulwesen. Er ordnete die Finanzen, die Einkünfte der Pfarrer und Lehrer sowie die Versorgung der Armen neu. Damit handelte er sich vielerorts Ärger ein – etwa mit Adligen, die Kirchengut einbehielten. Diese Kleinarbeit war oft so mühsam, dass er selbst davon sprach, „der Welt Fusstuch“ zu sein.

Maßgeblich war Krafft auch an der Auflösung der Klöster und der Entschädigung der Ordensleute beteiligt. Das größte Marburger „Widerstandsnest“ gegen die Reformation befand sich im Franziskanerkloster, das seinem Wohnhaus gegenüber lag. Im Gegensatz zu den Dominikanern und den Kugelherren verweigerten die Franziskaner unter Ordensvorsteher Nikolaus Ferber offen jede Zusammenarbeit und lehnten auch eine Abfindung ab. Sie verließen Marburg erst nach einem Ultimatum des Landgrafen 1528 – dafür aber demonstrativ und in geschlossener Form. Ihr Kloster ging an die Universität, die hier für viele Jahre ihre Bibliothek einrichtete. Heute sitzt das Institut für Sportwissenschaften in dem mehrfach umgebauten Gebäude.

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