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Ratsinformation
Fraktionsantrag - VO/0182/2002
Grunddaten
- Betreff:
-
Antrag aller Fraktionen betr. Zwangsarbeit in der Stadt Marburg
- Status:
- öffentlich (Vorlage abgeschlossen)
- Vorlageart:
- Fraktionsantrag
- Federführend:
- 10.1 - Allgemeiner Service
- Bearbeiter*in:
- Norina Nickel
- Beteiligt:
- 10.1 - Allgemeiner Service
Beratungsfolge
Status | Datum | Gremium | Beschluss | NA |
---|---|---|---|---|
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Erledigt
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Haupt- und Finanzausschuss
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Vorberatung
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23.04.2002
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Erledigt
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Stadtverordnetenversammlung
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Entscheidung
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26.04.2002
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Beschlussvorschlag
Die Stadtverordnetenversammlung möge
beschließen:
- Alle
noch lebenden Zwangsarbeiter/innen (Zivilpersonen wie Kriegsgefangene) aus
Ost-, Süd- und Westeuropa werden im Rahmen individueller Leistungen in Höhe von
2.000 € entschädigt.
- Voraussetzung
für die Auszahlung einer Entschädigung ist der eindeutige Nachweis des
Zwangsarbeitseinsatzes in Marburg beziehungsweise den heute zur Stadt gehörenden
Stadtteilen unabhängig von der Dauer des Zwangsarbeitseinsatzes.
-
Ist der Nachweis
aufgrund der vorhandenen Datenbank (1.700 Einträge ehemaliger
Zwangsarbeiter/innen) und gegebenenfalls weiterer Recherchen von der Stadt
Marburg nicht zu erbringen, werden die Partnerorganisationen, die als
Ansprechpartner der Bundesstiftung in den jeweiligen Ländern fungieren,
aufgefordert, den Nachweis über den Zwangsarbeitseinsatz in Marburg für die
Betroffenen zu belegen.
-
Im Todesfall der
Leistungsberechtigten sind die Erben zu entschädigen, wenn die
Leistungsberechtigten nach Beginn der Beschlussfassung der STVV am 26.4.2002
verstorben sind.
- Die
Antragsfrist zur Entschädigung von Zwangsarbeit in Marburg wird auf den
31.12.2002 festgelegt. In begründeten Einzelfällen kann von dieser Frist nach
Beschluss durch die Stadtverordnetenversammlung abgewichen werden.
- Für
die ordnungsgemäße Abwicklung der Entschädigungszahlung sind Verträge zwischen
der Stadt Marburg und den jeweiligen Partnerorganisationen auszuarbeiten, die
sich an dem bereits bewährten Mustervertrag zwischen der Stadt München und der
Ukrainischen Partnerorganisation orientieren. Für Antragsteller aus Westeuropa sind auch
Direktüberweisungen möglich.
- Mit
der Auszahlung soll in Anbetracht des hohen Alters der Betroffenen unverzüglich
begonnen werden. Zur Zeit kann für
52 Personen eindeutig der Zwangsarbeitseinsatz in, Marburg nachgewiesen werden.
- Ferner
ist ein Besuchsprogramm mit ehemaligen Marburger Zwangsarbeiterlinnen zu
planen, auch um gegebenenfalls die Entschädigungszahlungen anlässlich dieser
Besuche übergeben zu können.
Sachverhalt
Begründung:
Durch Beschluss der
Stadtverordnetenversammlung vom 28.09.2001 wurde einstimmig anerkannt, dass die
Stadt Marburg und ihre Gremien es als moralische Pflicht betrachten, alle
ehemaligen noch lebenden Zwangsarbeiter/innen, die während der NS-Diktatur in
Marburg und den heute zur Stadt Marburg gehörenden Stadtteilen eingesetzt
wurden, in noch näher zu klärender Form zu entschädigen. Ferner wurde festgelegt, dass aus
Gründen der Gleichbehandlung alle Arten von Zwangsarbeit (ehemalige
ausländische Kriegsgefangene, zivile Zwangsarbeiterlinnen, italienische
Militärinternierte und Häftlinge) berücksichtigt werden.
Die Entschädigung ehemaliger Kriegsgefangener wurde in den
oben genannten Beschluss der Stadtverordnetenversammlung explizit einbezogen.
Grundlage dieser Entscheidung waren unter anderem humanitäre Überlegungen, nach
denen das besondere Schicksal der am unwürdigsten behandelten
Zwangsarbeitergruppen, den sowjetischen Kriegsgefangenen und italienischen
Militärinternierten (IMI), von der Stadt Marburg ausdrücklich anerkannt wurde.
Darüber hinaus lassen sich weitere Gründe für diese
Beschlussfassung aufzeigen:
Für die Stadt Marburg zeigt sich nach heutigem
Forschungsstand eine besondere Situation im Umgang mit Kriegsgefangenen.
Aufgrund der Vorabuntersuchung durch die Marburger Geschichtswerkstatt ist
eindeutig in den Quellen belegbar, dass die Stadt in hohem Maße durch die
„Verleihung“ von Kriegsgefangenen an Marburger Unternehmen profitierte. Für die
Jahre 1942 und 1943 wird ein Gewinn von umgerechnet insgesamt 905.443,46 DM
genannt. Durch den Einsatz von Kriegsgefangenen bei städtischen Einrichtungen
als Straßenbahnfahrer oder bei der Müllabfuhr wurden zusätzliche Gewinne
erzielt. Ohne diesen Einsatz wäre die öffentliche Versorgung für mehrere Jahre
zum Erliegen gekommen.
Der Einsatz von Kriegsgefangenen für die Kriegswirtschaft
war nach der Genfer Konvention von 1929 (diese regelt die Behandlung von
Kriegsgefangenen) ausdrücklich verboten. Der Gefangenenstatus wurde jedoch vom
NS-Regime kontinuierlich mißachtet, wie beispielsweise ein Runderlaß des
Reichsministeriums des Innern von 1942 bestätigt: „Die Kriegswirtschaft
erfordert den Einsatz aller zur Verfügung stehenden Arbeitskräfte. Deshalb
werden die Kriegsgefangenen in vollem Umfange in den Dienst unserer Wirtschaft
gestellt.“
Eine eindeutige Grenzziehung zwischen zivilen
Zwangsarbeitern und Kriegsgefangenen ist zudem nicht immer möglich, denn auch
in für Marburg belegbaren Fällen wurde der jeweilige Status (Kriegsgefangene
wurden in einen Zivilarbeitsstatus überführt und teilweise zurücküberführt)
durch die Militärbehörde mehrfach gewechselt.
Dieses Problem zeigt sich insbesondere bei den IMI’s, denen
nach damaliger Definition kein Kriegsgefangenenstatus zugesprochen wurde.
Angesichts der Sonderstellung war diese Gruppe ursprünglich in dem
Stiftungsgesetz der Bundesrepublik berücksichtigt. Die unzureichende Höhe der
Entschädigungssumme für die westeuropäischen Partnerorganisationen und ein
nachträglich erstelltes Gutachten durch das Bundesfinanzministerium führten
dazu, die Gruppe der IMI’s aus dem Leistungsbezug wieder herauszunehmen. Klagen
von Betroffenen sind aufgrund eines Gegengutachtens bereits anhängig.
Um die Gleichbehandlung aller in der Stadt Marburg zur Zwangsarbeit eingesetzten Gruppen zu gewährleisten, sollte keine Ausgrenzung der Kriegsgefangenen von den Entschädigungszahlungen durch die Stadt erfolgen.
Da Kriegsgefangene nicht in den Datenbanken der
Partnerorganisationen aufgenommen sind, wird es kaum möglich sein, noch lebende
Personen dieser Kategorie zu ermitteln. Diese Einschätzung wurde von der
ukrainischen Partnerorganisation bestätigt, sie gilt ebenso für Rußland,
Weißrußland und Italien. Bisher konnten lediglich 5 Personen aufgefunden
werden.
Neben der bekundeten Verpflichtung,
durch die Forschungsarbeit auch für nachfolgende Generationen an das Schicksal
dieser Menschen zu erinnern und das ihnen zugefügte Unrecht aufzuzeigen, soll
insbesondere durch eine in diesem Antrag festgelegte individuelle
Entschädigungszahlung der Stadt Marburg an ehemalige Zwangsarbeiter/innen
dieser Verpflichtung konkret Ausdruck verliehen werden.
Das sehr hohe Alter der zu
entschädigenden Personen zwingt dazu, ohne weiteren Aufschub mit der Auszahlung
der festgelegten Entschädigungssumme unverzüglich zu beginnen.
Aufgrund der angelaufenen
umfangreichen Recherchen zur Ermittlung der Anschriften ehemaliger
Zwangsarbeiter/innen der Stadt Marburg liegen erste persönliche Antwortschreiben
und Ergebnisse vor. Zur Erkundung
der in Frage kommenden Personen wurden die von der Bundesstiftung genannten 17
Partnerorganisationen und darüber hinaus 24 weitere Opferverbände in mehreren
Ländern angeschrieben.
Mittlerweile konnten aus den
eingegangenen Listen der Partnerorganisationen (Ukraine, Italien, Tschechien),
durch die Angaben von Opferverbänden (Polen und Russland) und durch
Direktanfragen beim Stadtarchiv Marburg 52 Personen ermittelt werden, die
nachweislich in Marburg Zwangsarbeit geleistet haben. Für weitere 173 Personen ist ein eindeutiger Nachweis
(Abgleich mit der von der Geschichtswerkstatt Marburg erstellten Datenbank und
weiterer Plausibilitätsprüfungen) noch nicht endgültig abgeschlossen. Des weiteren gibt es bisher noch keine
Rückmeldungen der Partnerorganisationen aus Polen, Russland und Frankreich,
Länder aus denen viele der ehemaligen Zwangsarbeiter/innen stammen.
Daher lässt sich eine genaue Anzahl
der zu entschädigenden Personen zum augenblicklichen Zeitpunkt noch nicht nennen. Dies wird auch in den nächsten Monaten
nicht möglich sein, da wir bei den Plausibilitätsprüfungen auf die Arbeit der
Partnerorganisationen oder des Internationalen Suchdienstes (ITS) in Bad
Arolsen angewiesen sind.
Um möglichst vielen ehemaligen Zwangsarbeiter/innen
die Chance einer Entschädigungszahlung zu geben, wird die Frist auf das Ende
des Jahres 2002 gelegt, da bis zu diesem Zeitpunkt die Recherche der
Projektgruppe "Zwangsarbeit von Ausländern in Marburg 1939 -1945" in
den einschlägigen Archiven abgeschlossen sein wird. Wenn nach der Fristsetzung noch Anfragen an die Stadt
Marburg ergehen, sollte in begründeten Härtefällen eine Ausnahmeregelung
möglich sein.
Entsprechend der im Stiftungsgesetz
der Bundesrepublik Deutschland vorgesehenen Entschädigung von Erbberechtigten,
sollte auch für Marburg eine Regelung festgelegt werden, wonach die Erben im
Todesfall die Entschädigungszahlung erhalten. Dies wird für alle Personen
gelten, die bis zur Beschlussfassung der Stadtverordnetenversammlung am 26.04.2002
nicht verstorben waren.
Die Kontaktaufnahme mit
verschiedenen Städten (wie beispielsweise München, Darmstadt, Frankfurt,
Hilden) hat ergeben, dass die ehemaligen Zwangsarbeiter/innen eine individuelle
Entschädigung bevorzugen. Gleichzeitig wurde von ihnen der Wunsch formuliert,
die Orte ihres Zwangsarbeitseinsatzes noch einmal aufsuchen zu können.
Die Entschädigungshöhe wurde von den
einzelnen Städten individuell angesetzt und umfasst eine Spanne zwischen
12.000,-DM (München) und 300,-DM (Hilden). Die von Marburg vorgesehene
Entschädigungszahlung in Höhe von 2.000 € orientiert sich sowohl an den
Ausgaben der Bundesstiftung als auch an bereits von anderen Städten gezahlten
Leistungen. Auch die Summe von
2.000 € ist als symbolischer Betrag zu sehen, da eine tatsächliche
Entschädigung für das erlittene Unrecht nicht möglich ist.
Die Abwicklung der Auszahlungen kann
zumindest für die Ukraine, aus deren Liste allein 128 Personen als Arbeitsort
Marburg angegeben haben, und möglicherweise für weitere osteuropäische Länder
über die dortigen Partnerorganisationen erfolgen.
Zur Partnerorganisation der Ukraine,
ein gut organisierter und effizient arbeitender Suchdienst, bestehen bereits
sehr gute Kontakte, zudem gibt es positive Erfahrungen anderer Städte bezüglich
der Auszahlungsabwicklung und einer späteren Überprüfung der geleisteten
Auszahlung mit dieser Organisation.
Für die Auszahlung der individuellen
Entschädigung wurde von der Stadt München ein detaillierter Vertrag mit der
Ukrainischen Partnerorganisation abgeschlossen. Da sich dieser Vertrag als praktikabel erwiesen hat und
durch ihn die vollständige Auszahlung der Gelder an die Betroffenen
gewährleistet ist, haben Darmstadt, Hilden und augenblicklich auch Frankfurt
diesen Vertrag für die Abwicklung der Entschädigungszahlungen im Wesentlichen übernommen.
Eine Kopie des Vertrags der Stadt
Hilden liegt diesem Antrag bei und sollte auch der Stadt Marburg als Grundlage
dienen. Über eine
Verwaltungskostenpauschale ist abweichend zum vorliegenden Vertrag mit den
jeweiligen Partnerorganisationen gesondert zu verhandeln.
gez.
Löwer
Stadtverordnetenvorsteher
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