Fast 3 Millionen Menschen in Deutschland sind pflegebedürftig. Knapp ein Drittel von ihnen wohnt in Pflegeheimen, zwei Drittel zu Hause. Durch die Einschränkung der Selbstständigkeit kann es zu einer existenziellen Abhängigkeitserfahrung bis in intimste Bereiche kommen.
Das Recht auf Selbstbestimmung ist im Pflegeversicherungsgesetz, in der UN-Behindertenrechtskonvention und in den Leitbildern vieler Einrichtungen garantiert. Gute Pflege – ob ambulant oder stationär – muss Voraussetzungen schaffen, um Menschen mit unterschiedlichen Biographien und Erfahrungen in der Durchsetzung selbstbestimmter Wünsche zu unterstützen. Dabei sind geschlechterbezogene Aspekte zu berücksichtigen, sowohl bei der Alltagsgestaltung als auch bei der Intimpflege. Um die körperliche und geistige Integrität zu schützen, muss auch der Wunsch nach einer Pflegekraft des gleichen Geschlechts respektiert werden.
Individuelle Unterschiede wie beispielsweise in der sexuellen und geschlechtlichen Identität, in der Körperlichkeit und aufgrund kultureller Eigenheiten sollen dabei wahrgenommen werden, um Diskriminierungserfahrungen nicht zu wiederholen. Diese Anforderungen in der Praxis zu erfüllen, ist nicht immer einfach. Es braucht dafür Wissen über vielfältige Lebensweisen, eine Sensibilisierung für gleichgeschlechtliche Pflege und geeignete Konzepte. Dies gilt auch für den Bereich der kultursensiblen Pflege.
© Universitätsstadt MarburgDer Fachtag „Geschlecht, gute Pflege, Vielfalt“ am 17. Oktober 2019 bietet Information und Raum für Austausch und stellt gute Praxisbeispiele für geschlechter- und vielfaltssensible Pflege vor.
Fachtag „Geschlecht, gute Pflege, Vielfalt“
Zum zweiten Mal organisierten das Gleichberechtigungsreferat und die Altenplanung Marburg zusammen mit der Marburger Altenhilfe St. Jakob einen Fachtag rund um das Thema Pflege. Unter dem Titel „Geschlecht, gute Pflege, Vielfalt. Herausforderungen geschlechtersensibler Pflege und Wahlrecht auf eine Pflegeperson des gleichen Geschlechts“ wurde am 17. Oktober 2019 das Recht auf eine Pflegeperson des gleichen Geschlechts aus verschiedenen Blickwinkeln beleuchtet. Nach einführenden Vorträgen zu rechtlichen und theoretischen Aspekten wurden den rund 40 Teilnehmenden gute Beispiele aus der Praxis der Behinderten- und Altenhilfe vorgestellt, inkl. der Erfahrungen, Herausforderungen und Chancen bei ihrer Umsetzung. Der Fachtag fand auf Anregung der städtischen Gleichstellungskommission statt.
„Im Dezember 2017 haben wir mit dem Fachtag zur Gewaltprävention bereits einen Aspekt guter Pflege in den Blick genommen. Heute steht die Frage im Vordergrund, wer pflegt und wie die Wünsche der pflegebedürftigen Menschen geschlechtersensibel umgesetzt werden können. Das Ziel dabei ist, alle Menschen gut zu versorgen und dabei ihre unterschiedlichen Biographien, Bedürfnisse und ihre Selbstbestimmung zu achten. Dafür muss gute Pflege – ob ambulant oder stationär – die Voraussetzungen schaffen. Wie das gelingen kann, ist Thema des heutigen Tages“, begrüßte Oberbürgermeister Dr. Thomas Spies die Anwesenden, die zum Fachtag „Geschlecht, gute Pflege, Vielfalt“ am 17. Oktober 2019 ins Erwin-Piscator-Haus gekommen waren. Angesichts der Einschränkungen in der Selbstständigkeit, die viele der fast 3 Millionen pflegebedürftigen Menschen in Deutschland bis in die intimsten Bereiche erfahren, sei die Gestaltung guter Pflege immer sehr wichtig. Egal ob in der Alltagsgestaltung oder Intimpflege, geschlechterbezogene Aspekte müssten immer berücksichtigt werden, so Spies.
Eindrücke aus Einrichtungen der Alten- und Behindertenhilfe im Landkreis Marburg-Biedenkopf
© Universitätsstadt MarburgZu Beginn stellten Pflegeexpertinnen Daniela Wais (AWO-Altenpflegeschule) und Gabriele Metz (Lebenshilfe Hessen) Ergebnisse einer Umfrage zur gleichgeschlechtlichen Pflege vor. Zusammen mit Auszubildenden in der Alten- und Heilerziehungspflege hatten sie Eindrücke in der stationären Alten- und Behindertenhilfe im Landkreis Marburg-Biedenkopf gesammelt: Wie gehen Einrichtungen mit dem Wunsch nach einer Pflegeperson des gleichen Geschlechts um? Und wie sieht geschlechtersensible Pflege in der Praxis aus? Hierbei stellte sich unter anderem heraus, dass nur wenige Personen beim Einzug nach ihren Wünschen gefragt werden. Zusätzlich erschweren strukturelle und organisatorische Gegebenheiten oft auch die Umsetzung dieser Wünsche, da alleine das Geschlechterverhältnis zwischen Pfleger*innen und Bewohner*innen des gleichen Geschlechtes nur selten ausgeglichen ist (ca. 85 % weibliche Pflegekräfte und 70 % weibliche Bewohner*innen). Auch wurde dafür plädiert, sich für die Einführung eines Leitfadens zu gleichgeschlechtlicher Pflege und die damit einhergehende Schulung einzusetzen. Sie betonten, dass geschlechterbezogene Aspekte bereits in der Ausbildung von Pflegekräften verankert und reflektiert werden müssen.
Gender in der Pflege – Zwischen Klischee und Personenzentrierung
Prof. Dr. Josefine Heusinger (Hochschule Magdeburg-Stendal) verdeutlichte in ihrem Vortrag „Gender in der Pflege – Zwischen Klischee und Personenzentrierung“, warum ein Bewusstsein für Vielfalt/Diversity in der Pflege notwendig ist. Den Wunsch nach einer Pflegeperson des gleichen Geschlechts äußern zu können und umzusetzen ist sowohl von institutionellen als auch von individuellen Aspekten beeinflusst. Letztere wiederum können sehr vielgestaltig sein. Daher ist es notwendig, jede Person mit ihrer Vergangenheit, ihren Wünschen und Bedürfnissen individuell zu betrachten. Hierbei hob sie auch die Relevanz der Selbstwirksamkeit hervor, welche durch bestimmte Angebote und Maßnahmen für die Bewohner*innen gefördert werden kann.
Aus der Praxis: Konzept für eine selbstbestimmte und personenorientierte Pflege in der ambulanten Behindertenhilfe
© Universitätsstadt MarburgDer Fachtag schloss mit zwei Beispielen guter Praxis: Naxina Wienstroer (Verein zur Förderung der Inklusion Behinderter fib e.V.) stellte das Konzept des fib e.V. für eine selbstbestimmte und personenorientierte Pflege in der ambulanten Behindertenhilfe vor. Der fib e. V. ist aus der sog. „Krüppelbewegung“ in den 1970er Jahren entstanden. Wienstroer schilderte eindrücklich, welche Strukturen, Ansätze und Voraussetzungen in der Praxis gegeben sein müssen, um die persönlichen Wünsche und Bedürfnisse von Menschen mit Behinderungen umzusetzen. Dies schließt die Wahl einer Pflegeperson des gleichen Geschlechts ein. Sie hob hervor, dass Selbstbestimmung, Emanzipation und Empowerment die Selbstwirksamkeit der zu pflegenden Personen stärken. Das sei vor dem Hintergrund der teilweisen Fremdbestimmung bei der Pflege umso wichtiger: „Der Alltag wird öffentlich, wird durch jemanden Dritten mitbestimmt.“
Aus der Praxis: „Lebensort Vielfalt“ – Geschlechter- und vielfaltssensible Pflege für LSBTI*
Über geschlechter- und vielfaltssensible Pflege in der stationären Altenhilfe und das Qualitätssiegel „Lebensort Vielfalt“ berichtete Frank Kutscha (Schwulenberatung Berlin) gemeinsam mit Ralf Schäfer (Immanuel Seniorenzentrum Berlin-Schöneberg). Die Nachfrage homosexueller Männer nach geeigneten Wohn- und Unterstützungsformen bei Pflegebedürftigkeit bildeten den Ausgangspunkt dafür, eine Pflege-Wohngemeinschaft für homosexuelle Männer in Berlin zu gründen. Mit dem „Lebensort Vielfalt“, einem Mehrgenerationenhaus mit integrierter Pflege-Wohngemeinschaft in Berlin-Charlottenburg, wurde diese Idee 2012 umgesetzt. Daran anknüpfend wurde das gleichnamige Qualitätssiegel „Lebensort Vielfalt“ entwickelt. Es zeichnet stationäre Pflegeeinrichtungen und ambulante Pflegedienste aus, die in ihrer Struktur, Organisation und im Personal Voraussetzungen dafür schaffen, sexuelle und geschlechtliche Minderheiten zu integrieren. Das Immanuel Seniorenzentrum Berlin-Schöneberg gehört zu den ersten stationären Einrichtungen der Altenhilfe, die mit dem Qualitätssiegel „Lebensort Vielfalt“ zertifiziert wurden. Ralf Schäfer berichtete über die durchweg positiven Erfahrungen mit der Zertifizierung. Die Kriterien des Qualitätssiegels wurden nicht nur innerhalb der Einrichtung umgesetzt, sondern auch auf das Umfeld ausgedehnt: Alle Kooperationspartner*innen, Lieferant*innen und Sanitätshäuser wurden überprüft und in die Schulungen miteingebunden, da sie Teil des Lebensumfeldes der Bewohner*innen sind. Das anfängliche Unverständnis mancher Bewohner*innen wandelte sich schnell in Zustimmung und freudige Mitarbeit um, wodurch dies ein Paradebeispiel zur Stärkung der Selbstwirksamkeit der einzelnen Personen ist.
© Universitätsstadt MarburgDer Fachtag wurde auf Anregung der Gleichstellungskommission der Universitätsstadt Marburg organisiert. Verantwortlich für die Organisation waren die städtische Altenplanung, das Gleichberechtigungsreferat und die Marburger Altenhilfe St. Jakob. Beteiligt an der Vorbereitung waren außerdem folgende Institutionen: AWO-Altenpflegeschule Marburg, Fachbereich Arbeit, Wohnen und Soziales sowie die Fachdienste Gesunde Stadt und Soziale Leistungen der Universitätsstadt Marburg, Mitglieder der Gleichstellungskommission der Universitätsstadt Marburg, Hessisches Koordinationsbüro für Frauen mit Behinderungen, Lebenshilfe Hessen und der Verein zur Förderung der Inklusion Behinderter fib. e.V. Marburg.
Materialien zum Download
Die Präsentationen der Referent*innen stehen Ihnen unter Downloads zur Verfügung. Die Präsentation von Ralf Schäfer ist auf Anfrage an ralf.schaefer@immanuelalbertinen.de erhältlich.
Eine Übersicht der rechtlichen Grundlagen zur Wahl einer Pflegeperson des gleichen Geschlechts von Regine Krampen (Hessische Betreuungs- und Pflegeaufsicht) ist ebenfalls unter Downloads abrufbar.
Den Flyer zum Fachtag finden Sie unter den DOWNLOADS.