© Patricia Grähling, Stadt Marburg
Für das neue Format „Marburger Stadtgespräch“ hatte OB Spies drei Podiumsgäste über deren Erlebnisse und Erfahrungen zum Thema Seenotrettung und Flucht interviewt. Rostam Nazari berichtete von seiner eigenen Flucht und seinem Leben in Marburg, Ruby Hartbrich von ihrer Arbeit auf der Sea-Watch 3 und Goarik Gareyan-Petrosyan, Vorsitzende des Ausländerbeirats der Stadt Marburg, sagte, was es aus ihrer Sicht für eine gelungene Integration brauche.
„Wenn wir ein Europa wollen, dass die Menschen und ihre Rechte respektiert, dann dürfen wir nicht wegschauen, sondern müssen helfen“, sagte OB Spies zur Begrüßung. In Marburg gebe es eine große Bereitschaft, Menschen aufzunehmen, die fliehen mussten – das zeige etwa die Initiative „200 nach Marburg“ oder das Angebot, die Geflüchteten der Sea-Watch 3 aufzunehmen, als diese tagelang nicht in einem europäischen Hafen anlegen durfte. „Wir in Marburg wissen, was zu tun ist, wenn ein ganzer Kontinent ein Boot voller Menschen nicht aufnehmen will. Wir helfen gerne.“
Die Gefahren, das tägliche Sterben, die Trauer und Hoffnung bei der Flucht über das Mittelmeer verdeutlichte beim Stadtgespräch ein Film über einen Einsatz der Sea-Watch, den Ruby Hartbrich mitgebracht hatte: „Dieser Film ist nichts für empfindliche Nerven – das ist die tägliche Wirklichkeit“, so der OB. Betroffenes Schweigen herrschte im Erwin-Piscator-Haus auch noch, als der 15-minütige Film zu Ende war, der zeigt, wie sich hunderte Menschen in einem Schlauchboot drängen, wie Boote sinken, die Menschen weinen und singen, wie Kleinkinder gerettet werden und Väter unter Tränen erzählen, dass sie das Leben ihrer Kinder riskieren, um ihnen ein Leben bieten zu können, in dem sie nicht fürchten müssen, erschossen zu werden, wenn sie auf den Spielplatz gehen.
© Patricia Grähling, Stadt Marburg
„Wir erleben viel Leid auf der Sea-Watch und es geht den Rettern nah. Aber es lohnt sich auch – in den Momenten, wenn alles gut läuft und die Menschen anfangen zu singen oder zu beten“, berichtete Ruby Hartbrich. Die Marburger Ärztin ist seit 2015 regelmäßig für Sea-Watch im Einsatz, bewarb sich noch während ihres Studiums. „Ich kann mir nicht vorstellen, daheim auf dem Sofa zu liegen und zu wissen, dass niemand hilft“, erklärte sie dem Publikum. Und sie führte aus, dass die Seenotretter mit ihrer Arbeit das System der Schlepper nicht unterstützten: „Die Schlauchboote sind die letzte Option für diese Menschen. Sie würden lieber ertrinken, als in Libyen zu bleiben.“ Deswegen sei es auch der falsche Weg, dass Europa dafür zahle, dass die libysche Küstenwache die Boote der Schlepper aufhalte und die Menschen zurück nach Libyen bringe. „Nach geltendem Recht sind das illegale Rückführungen“, so Hartbrich. Sie wünsche sich, dass die EU eine staatliche Seenotrettung etabliere und legale Fluchtwege ermögliche, über die Menschen nach Europa reisen und dort dann Asylanträge stellen könnten. „Gehen Sie zur Europalwahl und wählen Sie Parteien, die für humanitäre Werte einstehen“, warb Hartbrich. Und sie wünsche sich, dass die Menschen auf die Straße gehen und für Menschlichkeit kämpfen. „Wenn die Politik sagt, es ist okay, dass Menschen ertrinken, dann müssen wir uns dagegenstellen!“, sagte sie unter lautem Applaus aus dem Saal.
Rostam Nazari berichtete im Gespräch, dass er 2015 mit 15 Jahren nach Deutschland kam – bereits mit 8 Jahren musste er seine Heimat Afghanistan verlassen und in den Iran fliehen. Er zeigte sich dankbar, dass er Bildung, Frieden und Freiheit in Deutschland genießen dürfe, kritisierte aber auch, dass Afghanistan als sicheres Herkunftsland bezeichnet werde. Und er bat um Rücksicht und Hilfestellung für Geflüchtete: „Es ist eine Herausforderung, Deutsch zu lernen. Ohne Freunde und die vielen Helferinnen und Helfer hätte ich es nicht geschafft.“ Wer nicht deutsch spreche dürfe nicht ausgegrenzt werden, sondern benötige eine helfende Hand. „Wir können auch in Marburg die Welt bewegen“, betonte er. Man müsse selbst die Augen aufmachen und füreinander einstehen: „Ich werde begrenzt, wenn ich eine Wohnung suche – weil ich anders aussehe. Das darf nicht passieren!“
© Patricia Grähling, Stadt Marburg
Goarik Gareyan-Petrosyan berichtete, wie sie selbst Anfang der 1990er-Jahre als Geflüchtete in Deutschland lebte. Sie betonte: „Sprache ist der Schlüssel zur Integration.“ Sie vermittle schneller das Gefühl, in einer neuen Heimat angekommen zu sein. Sie erklärte aber auch, dass es ein Hindernis für die Integration sei, wenn Menschen in dem EU-Land einen Asylantrag stellen müssten, in dem sie zuerst angekommen seien (Dublin-Verfahren). „Das ist unmenschlich, wenn ihre Familie bereits in einem anderen Land lebt. Und Familie, die schon da ist und die Geflüchteten unterstützen kann, ist der beste Katalysator für Integration.“ Wichtig sei ihr aber auch, dass Menschen nicht in der neuen Heimat diskriminiert werden – etwa auf dem Wohnungsmarkt oder dem Arbeitsmarkt – nur weil sie einen fremdländisch klingenden Namen hätten.
Nach den Interviews gab es Raum für die Besucher*innen, selbst Fragen zu stellen oder von eigenen Erlebnissen zu berichten – oder nach dem offiziellen Ende noch miteinander und mit den Interviewten ins persönliche Gespräch zu kommen.
© Patricia Grähling, Stadt Marburg
Hintergrund:
Miteinander ins Gespräch kommen über die wichtigen Themen des Zusammenlebens, das ist das Motto der neuen Veranstaltungsreihe „Marburger Stadtgespräch“. Beim „Marburger Stadtgespräch“, zu dem Oberbürgermeister Dr. Thomas Spies interessante Menschen aus Politik, Wissenschaft und Gesellschaft einlädt, berichten die eingeladenen Personen von ihren besonderen Erfahrungen oder Entdeckungen. So geht es weder um einen politischen Schlagabtausch noch um reine Bürgerinformation, sondern das Erleben von Erfahrungen anderer Menschen soll im Mittelpunkt stehen.