„Der Gedanke ist unerträglich, dass hier an diesem wichtigen demokratischen Ort – sozusagen direkt unter unseren Füßen – Menschen der Hexerei angeklagt, verhört und gefoltert wurden,“ sagt Oberbürgermeister und Kulturdezernent Dr. Thomas Spies beim Blick in das Lochgefängnis im Rathaus. Dass dort zwischen 1517 und 1712 systematisch der Hexerei Beschuldigte verhört, gefoltert und im Namen der damals gültigen Rechtsprechung zum Tode verurteilt wurden, berichtet Dr. Ronald Füssel. Er zeigt dies anhand des dort befindlichen originalen Wandgemäldes eines Halsgerichtsprozesses von 1551. Die Universitätsstadt hatte den freien Historiker beauftragt, eigens für Marburg eine Studie zur Hexenverfolgung anzufertigen. Die liegt nun vor – pünktlich zum Themenjahr „Andersartig. Hexen.Glaube.Verfolgung“ 2020. „Damit Vergleichbares nie mehr geschieht, sollten wir auch aus diesem dunklen Kapitel der Stadtgeschichte lernen“, so Spies.
Um zu verstehen, was wirklich passiert ist, wie viele Menschen umgekommen sind, wer Täter und wer Opfer waren und welche Ursachen zu diesen Exzessen von Diskriminierung und Ausgrenzung führten, hat die ehemalige Stadtverordnete Dr. Elke Therre-Staal das Thema angeregt. Die Idee wurde von SPD, B90/Die Grünen, Marburger Linke und BfM aufgenommen und vom Magistrat 2018 beschlossen. „Es geht darum, wie Menschen ausgegrenzt und brutal verfolgt werden, weil sie anders sind. Bei der Hexenrezeption geht es aber auch um ein bestimmtes Frauenbild – und wie sich dieses im Laufe der vergangenen Jahrhunderte gewandelt hat“, sagt Dr. Christine Amend-Wegmann, Fachbereichsleiterin Zivilgesellschaft, Stadtentwicklung, Migration und Kultur.
2020 startet nun das Gedenkjahr mit einem umfangreichen Programm, an dem auch die Evangelische Kirche, die Philipps-Universität, das Staatsarchiv und die Stadtgesellschaft maßgeblich beteiligt sind. „Andersartig“ ist der Titel, der die Beschäftigung mit dem Thema leitet: Mehr als 100 größere und kleinere Veranstaltungen beleuchten Aspekte rund um Hexenglauben und Verfolgung aus unterschiedlichen Blickwinkeln. Von einer wissenschaftlichen Tagung im Archiv über offene Ringvorlesungen an der Universität und Bürger*innenvorträgen im Rathaus bis hin zu Workshops, Konzerten, Ausstellungen, Kinofilmen, Führungen und Angeboten für Kinder. Dazu kommt ab März die Beschäftigung mit der Magie der Kräuter als einem Beispiel für Heilwissen, das Hexen oft zugeschrieben wurde.
„Die Vielfalt ist Programm“, erläutert Dr. Christoph Becker vom Fachbereich Kultur. „Es ist erstaunlich, wie viele Menschen im Laufe der Vorbereitungen zu uns gekommen sind, um mit uns über ihre Sicht der Dinge zu reden. Wir wollten daher möglichst vielen Aspekten ein Forum bieten. Herausgekommen ist dieses andersartige Programm, das viele Menschen beteiligt. Es startet am 17. März um 17 Uhr mit einem Auftaktgottesdienst in der Lutherischen Pfarrkirche und endet am Buß- und Bettag, den 18. November, mit einem namentlichen Gedenken und einem Abschlusskonzert.“
„Dass in diesem Jahr viele Sichtweisen aufeinandertreffen und dass auch kontrovers diskutiert werden wird, ist uns bewusst“, ergänzt Ruth Fischer, Leiterin des Fachdienstes Kultur. „Viele beanspruchen die Deutungshoheit zum Thema Hexen für sich. Aber wir möchten zu einer tolerant-moderaten Streitkultur einladen: Am 22. April wird es eine offene, moderierte Diskussionsrunde mit dem Oberbürgermeister, den Initiatorinnen, Fachleuten und interessierten Menschen darüber geben, wie wir mit solchen geschichtlichen Phänomenen angemessen umgehen sollten. Bei dem Gesprächsformat sind alle Interessierten eingeladen mitzureden.“ Denn eines sei diesmal bei diesem Themenjahr besonders aufgefallen: „So viele Menschen wir sprachen, so viele unterschiedliche, oft gut begründete Meinungen gab es auch. So könnte man fast mit Marc Aurel sagen: ‚Alles, was wir hören, ist eine Meinung, keine Tatsache. Alles, was wir sehen, ist eine Perspektive, keine Wahrheit‘“, sagt Ruth Fischer.
Aber natürlich gibt es geschichtliche Tatsachen. Und die wurden – aktenmäßig belegt – von Dr. Ronald Füssel zusammengetragen und werden der Öffentlichkeit im Mai im Historischen Rathaussaal vorgetragen. Untersucht hat er 120 Hexenprozesse in Marburg, eine Hälfte der Angeklagten stamme aus Marburg, die andere Hälfte aus dem Gerichtsbezirk. In Marburg habe es 24 Todesopfer gegeben – 22 Frauen und zwei Männer. 21 wurden hingerichtet, drei Frauen verstarben in der Haft beziehungsweise während der Tortur. Im Mai wird auch die Studie „Gefoltert. Gestanden. Zu Marburg verbrannt. Hexenprozesse in Marburg“ im Buchhandel erscheinen. Mitte Februar soll die umfängliche Broschüre mit mehr als 100 Seiten zur Veranstaltungsreihe erscheinen.
Weitere Informationen gibt es bei FD Kultur, Ruth Fischer, (06421) 201-1467, ruth.fischer@marburg-stadt.de.