© Stadt Marburg, Patricia Grähling
Dunkelheit und Stille im Garten des Gedenkens, dem Ort, an dem 79 Jahre zuvor unfassbare Gewalt gegen jüdische Mitbürgerinnen und Mitbürger, deren Eigentum und deren Gotteshaus ausgeübt wurde – von den eigenen Nachbarinnen und Nachbarn. Dunkelheit, durchbrochen von zehn hell leuchtenden Quadraten im Boden. Darin deutlich sichtbar Texte, die an den Holocaust erinnern. „Wo sind sie nur geblieben?“, leuchten die Worte in einem der Zettelkästen. Stille, durchbrochen vom Gesang der Musikgruppe „Four Voices“ der Alfred-Wegener-Schule in Kirchhain. „You and I’ll be safe“ – Du und ich werden sicher sein. Die Worte erklingen am Standort der ehemaligen Synagoge, wo sich rund 100 Marburgerinnen und Marburger versammelt haben, um der Opfer der Pogromnacht zu gedenken.
„Aus dem Holocaust erwächst für uns die Pflicht, jeglichem Antisemitismus, aber auch allen anderen Formen gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit mit allen Mitteln des Rechts, der Bildung, der Kultur und der wehrhaften Demokratie entschieden entgegenzutreten – heute mehr denn je“, betonte Oberbürgermeister Dr. Thomas Spies bei seiner Ansprache im Garten des Gedenkens.
Der OB stellte die Frage, ob das Mahnmal am früheren Standort der Synagoge – sie wurde in der Pogromnacht zerstört – der richtige Ort sei, um dort in seiner Freizeit zu sitzen und die Stille zu genießen, ohne sich Gedanken über die Geschichte zu machen. Er beantwortete sie gleich selbst: „Genau so muss ein Raum des Gedenkens sein. Nicht abgekapselt und versteckt in einem geschlossenen Gebäude, wo nur die ihn sehen, die ihn suchen. Sondern mitten im Leben, im Alltag, mitten im öffentlich Raum und ganz selbstverständlicher Teil unserer Stadt.“ Alle, die sich dort regelmäßig aufhielten, Zeit verbringen oder einfach nur vorbeigehen, würden sich irgendwann fragen, was es mit dieser Baulücke im Herzen der Stadt auf sich habe – und an die realen Auswirkungen des NS-Regimes denken, die bis heute nachwirken.
„Dieser Hass, diese unbegreifliche Gewalt ging nicht von irgendwelchen einzelnen Menschen an irgendeinem weitentfernten Ort aus – sondern genau hier, mitten im Herzen der Stadt, haben Marburgerinnen und Marburger ihre Nachbarn, Schulfreunde, ihre Mitmenschen ausgegrenzt, entmenschlicht und in die nationalsozialistischen Konzentrationslager deportiert“, führte das Stadtoberhaupt aus. „Der Holocaust erfüllt uns bis heute mit Scham und Abscheu.“
Klaus Dorn von der Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit wies die Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Gedenkstunde auf die Zettelkästen im Boden hin. Jedes Jahr am 9. November werden die zehn ausgewählten Texte darin ausgetauscht. In diesem Jahr wollte der Vorstand um Dorn gerne der Lichtblicke der jüdischen Gemeinschaft in Marburg in den Vordergrund rücken, anlässlich des 700-jährigen Jubiläums. Mitglieder waren dazu aufgerufen, Textvorschläge einzureichen. „Dabei wurden wir von der Wirklichkeit eingeholt“, bedauerte er, dass bei den Bundestagswahlen eine Partei viel Zuspruch erhalten hat, in der führende Mitglieder nationalistisches Gedankengut äußerten. Die zehn Texte enthalten nun Erinnerungen an eine Geschichte, „die sich nicht wiederholen darf“.
Marburgs Ehrenbürger und Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde, Amnon Orbach, sprach im Rahmen der Besinnungsstunde jüdische Gebete. OB Spies legte gemeinsam mit der Stadtverordnetenvorsteherin Marianne Wölk im Beisein von Bürgermeister Wieland Stötzel sowie Mitgliedern des Magistrats und der Stadtverordnetenversammlung einen Kranz nieder.