„Der überschwängliche und kreative Protest, der fröhliche Ungehorsam hat so viele für uns heute selbstverständliche Freiheiten gebracht“, sagte Spies im proppenvollen Ausstellungsraum im Erdgeschoss des Rathauses. Der Oberbürgermeister erinnerte unter anderem daran, dass eine Frau im Jahr 1968 noch die Erlaubnis ihres Mannes brauchte, um arbeiten gehen zu gehen, oder dass Homosexualität noch strafbar war. „Es ist ein absurder Gedanke zu glauben, man könne diese Freiheiten wieder zurücknehmen“, kommentierte Spies die Diskussion, die der Studentenbewegung pünktlich zum Jubiläumsjahr entweder ihre bahnbrechende Rolle in der Veränderung der Gesellschaft abspricht oder gar behauptet, sie habe zu viel des Guten gebracht.
Er selbst sei ’68 sechs Jahre alt gewesen, ein Grundschüler mit Haaren bis zu den Schultern, berichtete Spies schmunzelnd. Als stärkste Erinnerung an die Zeit sei ihm das Gefühl geblieben, „das Politik keine Aufgabe nur für die Politiker ist, sondern ein allgegenwärtiges Erleben aller. Und dass Politik nur gelingen kann, wenn sie nicht den Profis überlassen wird, sondern ein Prozess ist, an dem sich alle beteiligen, weil er alle betrifft“. „‘68 ist erst 50 Jahre her“, so Spies weiter, und der Prozess von tiefgreifender Demokratisierung, von Gleichberechtigung, Emanzipation sei auch heute noch nicht zu Ende. Deshalb gehöre ‘68 auch nicht ins Museum, sondern in die Gegenwart und in die Zukunft – „und zwar für die Frage, wie wir in unserer Gesellschaft weitergehen wollen", so Spies unter dem Beifall der Vernissage-Gäste. Die meisten unter ihnen waren im prominenten Jahr 1968 wie Spies mindestens sechs Jahre alt, die Jüngeren im Saal deutlich in der Minderheit.
„Geschichte wird von Menschen gemacht", sagte Kulturamtsleiter Richard Laufner, „von Menschen mit Kreativität, Engagement und Courage“. Er freute sich mit dem OB, dass zehn der 13 Menschen, deren Zeitzeugnisse das Herzstück der Ausstellung ausmachen, bei der Eröffnung selbst anwesend waren: Elisabeth Abendroth, Annegret und Christoph Ehmann, Gerlinde Griepenburg-Burow, Wolfgang Hecker, Hubert Hetsch, Helge-Ulrike Hyams, Wolfgang Richter, Claus Schreiner und Franziska Wiethold. Hans Eichel, Georg Fülberth und Wolfgang Gerhardt waren verhindert.
Die Ausstellung hat der Fachdienst Kultur der Stadt organisiert – als weiteren Baustein der Erinnerungskultur: 2017 war das Thema 500 Jahre Reformation, 2018 nun 50 Jahre ’68, so Laufner – „beides hat in Marburg eine große Rolle gespielt.“ Nicht zufällig werde die Ausstellung außerdem zum Marburger Frühling eröffnet. 23 Jahre vor ’68 sei ein dunkles und winterliches Kapitel deutscher Geschichte zu Ende gegangen. „Mit ’68 kam das Frühlingshafte, das Raus-auf-die-Straße“, erklärte Laufner den Bezug zur Zwillingsausstellung, den „Zeitsprung-Schaufenstern“ in den 37 Geschäften der Marburger Oberstadt, die das bedeutende Jahr noch bis Ende Mai in ihre Auslagen integriert haben.
In der Ausstellung im Rathaus gibt es 13 Stationen, an denen die Zeitzeug/innen in Kurzvideos über ihr persönliches ’68 sprechen. Die Filme sind per Monitor und Kopfhörer zu sehen. Wer nicht stehen möchte, kann es sich auf einem Sitzwürfel davor bequem machen. Eine „Wandzeitung“ präsentiert die Zeitleiste mit Ereignissen aus Politik, Kultur und Gesellschaft in Marburg und über Marburg hinaus. Eine Bilderwand visualisiert mit Fotos, Flugblättern und Plakaten die in der Universitätsstadt ganz besonders bewegte Zeit. Wer die Ausstellung besucht, kann eine Musikbox mit Hits von Heintje bis zu den Rolling Stones mit einem 1-DM-Stück zum Klingen bringen. Auf einer „zeitgenössischen" Schreibmaschine können eigene '68er-Erinnerungen aufgeschrieben werden – mit Blick auf blaue Bände der gesammelten Marx-Engels-Werke und andere „zeitgenössische“ Bücher.
Die angebotenen Hanfplätzchen – „allerdings ohne halluzinogene Wirkung“, so Laufner – fanden beim Vernissage-Publikum ebenso Anklang wie Sekt und O-Saft. Eine gebundene Sammlung von Flugblättern, die 1968 an der Marburger Uni verteilt wurden und die Laufner eigentlich zur Ansicht mitgebracht hatte, wird ob der großen Resonanz auf die historischen Zeugnisse bei der Eröffnung nun auf Bestellung kopiert.
Auch das Buch „Marburg '68 A bis Z“, das als Marburger Stadtschrift im Rathaus-Verlag erschienen ist, gibt es in der Ausstellung zu kaufen. Auf 128 Seiten bietet es einen informativen und unterhaltsamen Überblick über die Besonderheiten dieser Zeit in der Universitätsstadt – von A wie Wolfgang Abendroth über M wie Minirock und P wie Pillenknick bis Z wie Zweiter Juni 1967. Alte Flugblätter und Zeitungsartikel aus dem Jahr 1968 dienten dabei ebenso als Quelle wie Studentenzeitschriften. Die Stadtschrift kostet fünf Euro.
Die Ausstellung ist bis zum 13. Mai täglich von 11 bis 17 Uhr im Rathaus sehen. Der Eintritt ist frei. Die „Zeitsprung-Schaufenster“ räumen die ‘68er Objekte Ende Mai wieder aus. Diejenigen, die das Kulturamt zur Verfügung gestellt hat, werden am 2. Juni für einen guten Zweck verkauft.