Die neue Kamera-Anlage ist keine Einrichtung zur dauerhaften Videoaufzeichnung. Stattdessen wird sie von den Passantinnen und Passanten im Jägertunnel selbst bei Bedarf aktiviert: Wer sich nicht sicher fühlt oder Hilfe benötigt, kann einen Rufknopf an der Tunnelwand drücken. Sieben Knöpfe sind in regelmäßigen Abständen auf der Bürgersteigseite des Tunnels angebracht. Von jeder Stelle des Tunnels ist der nächste Knopf maximal fünf Meter entfernt. Durch den Druck auf den Knopf startet „LiSA“ und überträgt live Bild und Ton aus dem Tunnel in die Einsatzzentrale der Marburger Feuerwehr. Die Person im Tunnel kann mit den Feuerwehrleuten am anderen Ende der Leitung sprechen. Der Diensthabende in der Einsatzzentrale kann die Person im Tunnel auf ihrem Bildschirm sehen – und so, wenn gewünscht, ihren Weg bis zum Tunnelausgang live beobachten. Im Ernstfall alarmiert er Polizei und/oder Rettungsdienst.
© Stadt Marburg, Birgit Heimrich
Der „Angstraum“ Jägertunnel hatte Ende September 2016 besondere öffentliche Aufmerksamkeit durch einen Überfall auf eine Studentin. Die junge Frau wurde sexuell angegriffen und ausgeraubt: „Wenn wir mit ,LiSA‘ nur einen einzigen solchen Vorfall in Zukunft verhindern können, dann hat sich die Installation der Anlage bereits gelohnt“, ist Oberbürgermeister Dr. Spies überzeugt. Der OB hatte sich seit den ersten Ideen zur Installation einer neuartigen Anlage persönlich dafür eingesetzt, dass die Stadt Maßnahmen für weniger Angst und mehr Sicherheit rund um den Jägertunnel in die Tat umsetzt.
„Bis zur Einrichtung dieser bislang einmaligen Pilotanlage mussten eine Fülle an bürokratischen, organisatorischen und technischen Hürden überwunden werden“, erklärt Bürgermeister Wieland Stötzel bei der Vorstellung den besonderen Rahmen des Projekts, an dessen Umsetzung zehn verschiedene Fachdienste der Stadtverwaltung mitgewirkt haben. Vertreterinnen und Vertreter der Fachdienste waren denn auch neben der ausführenden Firma bei der Pressekonferenz vor Ort. Auch die Polizei, Repräsentant/innen der angrenzenden Stadtteile Waldtal und Ortenberg sowie des Behindertenbeirats waren zum Termin in die Neuen Kasseler Straße gekommen. Sie haben ebenfalls an Pilotprojekt „LiSA“ mitgearbeitet.
Beim offiziellen Start von „LiSA“ zahlenmäßig mindestens ebenso stark vertreten waren die Medien. Mehrere Fernsehsender hatten Kamerateams zum Jägertunnel geschickt, dazu waren Hörfunkjournalistinnen und -journalisten sowie die lokalen Zeitungen vor Ort. „Das große Interesse an unserer innovativen Präventionsarbeit freut uns. Wir sprechen hier aber zunächst bewusst von einer Testphase: Das Verfahren muss sich erst bewähren, und auch die Abläufe im Hintergrund müssen im laufenden Betrieb noch optimiert werden“, erläuterte Bürgermeister Stötzel – zunächst in großer Runde und dann ein ums andere Mal in die Mikrofone der einzelnen Sender.
Der Jägertunnel liegt rund 200 Meter nördlich des Marburger Hauptbahnhofs und verbindet Alte und Neue Kasseler Straße. Für die Bewohnerinnen und Bewohner der Stadtteile Waldtal und Ortenberg ist er die kürzeste Verbindung in die Innenstadt und damit vor allem für Fußgängerinnen und Fußgänger sowie Radfahrerinnen und Radfahrer von großer alltäglicher Bedeutung. Wohl auch aufgrund der von vielen als unzureichend empfundenen Beleuchtung, der verhältnismäßig niedrigen Deckenhöhe und seiner schlechten Einsehbarkeit zählt der 80 Meter lange Tunnel zu den so genannten „Angsträumen“ im Marburger Stadtgebiet. So ergab eine Umfrage durch das Projekt „Einsicht-Marburg gegen Gewalt“, dass Passantinnen und Passanten vor allem nach Einbruch der Dunkelheit Sicherheitsbedenken im Tunnel haben: Über 40 Prozent der dort Befragten sagten, sich eher oder sogar sehr unsicher zu fühlen, tagsüber waren das nur zehn Prozent. © Stadt Marburg, Birgit Heimrich
Von der Ausstattung des Jägertunnels mit einem Kamera-Notruf samt Gegensprechanlage versprechen sich trotzdem ganze 40 Prozent der Befragten eine Verbesserung des Sicherheitsgefühls – und das schon am Tage. Für die Zeit nach Einbruch der Dunkelheit erwarten sogar über 70 Prozent eine verbesserte Situation.
Die Standard-Übertragung aus dem Tunnel in die Feuerwehreinsatzzentrale dauert drei Minuten. Die Anlage speichert ab Knopfdruck sowie die letzte Minute davor – zur Beweissicherung im Ernstfall. „Zum Beispiel bei einem Angriff oder einem Diebstahl, wenn der Täter schnell wegläuft, lohnt es sich also immer noch, den Knopf zu drücken, weil dann die Tat selbst und der Täter trotzdem noch zu sehen sind“, erklärt Regina Lang, Leiterin des Fachbereichs Öffentliche Sicherheit, Ordnung und Brandschutz.
Ist „LiSA“ aktiviert, leuchtet am Tunneleingang eine Anzeige auf. Damit durch das freiwillige Einschalten bei Bedarf bleibt das Recht auf informelle Selbstbestimmung der Passantinnen und Passanten gewahrt: Sofern kein Notfall und keine Straftaten vorliegen, werden die Daten nach 48 Stunden automatisch gelöscht. Wird kein Knopf gedrückt, sendet oder speichert „LiSA“ auch keine Daten aus dem Tunnel; lediglich der Schutz der Anlage gegen Vandalismus und die Eigenkontrolle sind im Standby-Modus aktiv.
© Stadt Marburg, Birgit Heimrich
Neben der Installation von „LiSA“ wurden im Jägertunnel im Laufe des vergangenen Jahres auch die Beleuchtung verbessert. Jugendliche Sprayer haben zur Verschönerung und Belebung des Tunnels durch legale Graffiti beigetragen. Der Dienstleistungsbetrieb der Stadt Marburg erhöhte die Reinigungsintervalle im Tunnel. Der Ausgangsbereich auf Seite der Alten Kasseler Straße ist durch das Entfernen von dichtem Heckenbewuchs und Grünschnittmaßnahmen nun deutlich übersichtlicher gestaltet. Diese Maßnahmen sollen beibehalten werden. Zudem sind weitere Befragungen im Jägertunnel geplant, um herauszufinden, welche tatsächliche Wirkung das Pilotprojekt „LiSA“ auf das Sicherheitsempfinden der Passantinnen und Passanten hat.