© Patricia Grähling, Stadt Marburg
„Marburg hat sich auf den Weg zur Verkehrswende gemacht. Nicht nur, weil wir uns hoch angesetzte Klimaziele gesteckt haben – sondern auch, weil der Mensch im Zentrum der Mobilität stehen soll“, sagte Oberbürgermeister Dr. Thomas Spies, als er die Zuschauer*innen bei den 3. Marburger Verkehrsdialogen im Livestream begrüßte. Es ist die Vorbereitung für den Prozess, gemeinsam mit den Akteuren in Marburg das Mobilitäts- und Verkehrsentwicklungskonzept MoVe35 zu erstellen.
Direkt aus dem Erwin-Piscator-Haus in die heimischen Wohnzimmer von rund 70 Zugeschalteten sprach dann die Münchener Stadtplanerin Sonja Rube. „Wir machen Stadtplanung für die Menschen und nicht für Häuser“, sagte sie. Sie habe einfach ein paar Ideen mitgebracht, die sie in die Köpfe pflanzen wolle – auch ein wenig provokativ. „Denn: Ein ,Weiter so‘ ist beim Verkehr nicht mehr möglich, sonst stehen wir irgendwann von 5 bis 22 Uhr im Dauerstau!“
Sie erklärte, dass Städte wachsen – ebenso wie die Anforderungen an Klimaschutz, saubere Luft und weniger Lärm. Das fordere neue Verkehrslösungen. Zugleich gebe es durch Sharing-Modelle und smarte Technologien auch ein neues Mobilitätsverhalten der Menschen. So stelle sich auch München der Herausforderung Verkehrswende. Und damit der Herausforderung, den öffentlichen Raum neu aufzuteilen.
Eine Herausforderung: Für Einzelhandel und Gastronomie sind Erreichbarkeit wichtig. Dazu gehöre auch das Angebot an Parkflächen. Wichtig sei aber ebenso die Aufenthaltsqualität. Und da hat München einige Experimente gemacht. In der Coronakrise durften Gastronomen jeweils fünf Parkplätze vor ihren Gebäuden entfernen und stattdessen mehr Sitzplätze anbieten. Beschwerden habe es keine zehn gegeben. Im Sommer habe die Stadt zudem in zehn Straßen die Stellplätze weggenommen und die Fläche stattdessen gemeinsam mit den Anwohner*innen gestaltet. Das Ergebnis: „Die Anwohner*innen wollen die neuen Aufenthaltsräume behalten. Das zeigt: „Die Stadt von Morgen hat vor allem eine tolle Aufenthaltsqualität. Und klar ist: „Die Stadt von Morgen ist ein Gemeinschaftsprojekt“, so Rube. Auch der Einzelhandel müsse mit ins Boot. Auch dem Einzelhandel gehe es nicht mehr nur um Parkplätze – auch die Gestaltung des öffentlichen Raums mache eine Qualität für den Einzelhandel aus. So hätten Bürger*innen und Händler*innen in Freising gemeinsam ein Konzept erarbeitet und alle Stellplätze in der Altstadt entfernt. Eine Kleinstadt mit 50.000 Einwohner*innen. „Und das läuft super!“
© Patricia Grähling, Stadt Marburg
Wichtig ist: „Der ÖPNV ist die Basis, das Rückgrat, nachhaltiger Stadtentwicklung“, erklärte die Stadtplanerin. Sharing-Systeme müssten mitgedacht werden. Man müsse sich aber insbesondere die „letzte Meile zum Ziel“ anschauen. Und den Lieferverkehr. München testet bereits die Neuorganisation von Lieferverkehr. Pakete werden zentral gesammelt und dann verteilt – emissionsfrei mit Pedelecs. Das Ergebnis: etwa 3.000 Lieferfahrten mit Transportern werden täglich eingespart. „Wir wollen die Autos nicht ganz herausnehmen. Wir wollen Mischbereiche in der Innenstadt. Diese Mischbereiche sind auch wichtig, wenn jemand zum Arzt oder etwas transportieren muss“, betonte sie. Aber in den Begegnungszonen müssten alle mehr Rücksicht nehmen – Autos und Radverkehr müssten da auch langsamer unterwegs sein.
Wichtig ist auch: „Die Stadt von Morgen reicht nicht. Wir brauchen die Region von Morgen“, betonte Rube die Wichtigkeit, bei der Frage der Mobilität auch die Menschen und Wege in der Region in den Blick zu nehmen. „Merken Sie was? Es braucht ein Umdenken im Kopf. Und es braucht Sie!“, schloss Rube ihr Impulsreferat. „Wir brauchen also einen Kulturwandel, den die Bürger*innen mittragen“, fasste Moderator Thomas Ranft zusammen.
„Wir merken, dass dieser Kulturwandel auch ,von unten‘ kommt“, sagte Matthias Schäpers, Nachhaltigkeitsbeauftragter der Firma SMA. Mitarbeiter*innen hätten zunehmend Interesse am Thema Nachhaltigkeit und erwarten Angebote für intelligente Mobilität. Schäpers saß zusammen mit Franz Josef Breiner vom Behindertenbeirat der Stadt Marburg, Hans-Joachim Wölk vom Seniorenbeirat und Bosko van Andel – Schüler, von Fridays for Future – auf dem Podium und diskutierte Ideen und Herausforderungen für die Stadt von Morgen. „Auch ältere Menschen wollen weiter am gesellschaftlichen Leben teilhaben. Auch für sie müssen wir weiter Mobilität ermöglichen und Wege suchen“, ergänzte Wölk. Breiner gab zu bedenken, dass „Shared Space“ – geteilte öffentliche Räume mit der Gleichberechtigung aller Mobilitätsformen – Probleme für Kinder und für Menschen mit Behinderungen bedeuten. Van Andel formulierte seinen Wunsch deutlich: „Ich will mich frei und schnell und ohne Auto in der Stadt bewegen!“ Er will ohne rücksichtsloses Auto im Rücken mit dem Fahrrad unterwegs sein und nicht länger als 5 bis 10 Minuten auf den Bus warten.
Die Zuschauer*innen haben sich per Mail mit Fragen an der Diskussion beteiligt und auch einige Wünsche eingebracht – etwa Anhängerkupplung und Kindersitze in den CarSharing-Fahrzeugen oder mehr Busse Richtung Richtsberg. Weitere Wünsche und Ideen für MoVe35 können alle Interessierten einbringen – sie können mailen an marburg-bewegen@marburg-stadt.de, schreiben oder bei den Beteiligungsveranstaltungen mitmachen.