© Patricia Grähling, Stadt Marburg
Kerzen brennen im Garten des Gedenkens, als die Dunkelheit hereinbricht; dazwischen liegen Rosen und Briefe mit Worten der Trauer, des Unverständnisses. Einige Menschen sind dem Aufruf der Stadt gefolgt und haben über den Tag verteilt an dem Ort der Opfer des NS-Regimes gedacht, an dem an diesem Tag, 82 Jahre zuvor, die Marburger Synagoge brannte. „Es waren Marburger*innen, die die Hand und den Brandsatz gegen ihre Mitbürger*innen, gegen ihre Nachbar*innen erhoben“, sagte Oberbürgermeister Dr. Thomas Spies am Abend bei der Besinnungsstunde.
© Patricia Grähling, Stadt Marburg
Rund 200 Menschen waren wieder bei der Besinnungsstunde dabei. Einige von ihnen kamen persönlich zum Garten des Gedenkens, erinnerten mit Abstand untereinander. Die meisten Menschen verfolgten die Veranstaltung in diesem Jahr jedoch – bedingt durch die Corona-Pandemie – im Live-Stream. Mit Musik, mit Gebeten von Amnon Orbach, dem Vorsitzenden der Jüdischen Gemeinde Marburg, und mit Gedenkansprachen setzten die Veranstalter einen würdigen Rahmen für die Erinnerung und die Kranzniederlegung.
OB Spies: „Das Grauen darf sich niemals wiederholen!“
© Patricia Grähling, Stadt Marburg
„Die Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 war in ganz Deutschland eine Nacht des Terrors“, sagte der OB. Synagogen brannten, Läden und Wohnungen wurden zerstört, tausende Menschen jüdischen Glaubens misshandelt – sie wurden in den darauffolgenden Tagen in Konzentrationslager verschleppt. Die meisten kehrten nie zurück. Sechs Millionen Menschen wurden im Holocaust gezielt ermordet, nicht nur Menschen jüdischer Herkunft, sondern auch Menschen mit Behinderung, politisch Andersdenkende, Sinti und Roma, Homosexuelle und viele andere. Die Erinnerung an sie müsse lebendig gehalten werden, „damit wir nie vergessen: nie wieder Faschismus, nie wieder Antisemitismus unserem Land, in unserer Stadt“, so das Stadtoberhaupt. Denn Antisemitismus sei auch heute noch eine Realität, antisemitische Angriffe würden wieder mehr. Dagegen stelle sich die Stadt Marburg – neben und vor ihre Mitmenschen, Nachbarn und Freunde jüdischen Glaubens. „Das Grauen darf sich niemals wiederholen!“, so Thomas Spies.
„Ein Virus geht um. Sein Name: Antisemitismus“, zog Probst Helmut Wöllenstein einen Vergleich. Der Virus gehe um die ganze Welt, sei seit Jahrtausenden pandemisch unterwegs, gehe über jede Grenze; kein Alter, keine soziale, kulturelle oder religiöse Zugehörigkeit machten immun dagegen, so Wöllenstein. Nach dem NS-Regime schien er fast verschwunden, blitzte beim Stammtisch nach dem fünften Bier mal auf. Aber Viren könnten auch blitzschnell wieder virulent werden. „Wer daran infiziert ist, kommt nicht zuerst selbst daran zu Tode – sondern verbreitet Leid“, stellte der Probst klar.
Islamische Gemeinde Marburg gedenkt mit persönlichen Worten
„Man hat das Gefühl, nicht nur zu gedenken, sondern wieder warnen zu müssen. Es sind wirre Zeiten, in denen die Stimmen des Hasses lauter werden und meinen, alles zu übertönen“, sagte Bilal El-Zayat, der Vorsitzende der Islamischen Gemeinde Marburg. „Es ehrt uns als Marburger Muslime sehr, dass wir hier sprechen dürfen und dazu auserkoren wurden, in diesem Jahr die Zettelkästen zu beschriften.“ Das sei ein Hoffnungsschimmer über die Stadtgrenzen hinaus. Im Dunklen leuchteten die Zettelkästen, in denen sich persönliche Texte der Marburger Muslim*innen finden. Die Zeilen haben sie unter dem Eindruck eines Besuchs im KZ Buchenwald mit den Marburger Ehrenbürger*innen Anmon Orbach und Schwester Edith geschrieben – und bei der Gedenkstunde auch persönlich vorgetragen.
© Patricia Grähling, Stadt Marburg
„Müssen Ereignisse erst Geschichte werden, bevor man darüber weint?“, fragte sich Shaima Ghafury. „Der Holocaust ist Teil der Geschichte der ganzen Menschheit. Wir müssen uns erinnern und verhindern, dass so etwas jemals wieder irgendwo passiert. Wir dürfen nie zur schweigenden Masse gehören“, schrieb Aladin Atalla. „Wie menschlich oder unmenschlich wir sind, zeigt sich in unserem Respekt und in unserem Umgang mit Andersdenkenden“, so Hamdi Elfarra. „Worte des Hasses entfesseln Taten. Dies lehrt uns die Geschichte ebenso, wie die Gegenwart“ und „Rassismus und Ausgrenzung beginnen nicht mit den Worten, sondern mit dem Gefühl, dass einige Menschen mehr wert sind, als andere“ oder „Jeder vermeintlich Fremde könnte ein Freund sein und alles was er mitbringt, macht unsere Welt bunter und menschlicher“ – auch diese Texte regen in der Stille des Ortes zum Nachdenken an. „Das Heute gehört dir, also tue, was du heute tun musst, um die Welt zu verbessern“, so El-Zayat.
(Hinweis: Die Veranstaltung beginnt ab Minute 14. Bitte "spulen" Sie die Wiedergabe bis dahin vor.)