© Stadt Marburg, Birgit Heimrich
Zum 75. Jahrestag des letzten Transports von Jüdinnen und Juden aus Marburg und dem Landkreis nach Theresienstadt, erscheint das 544 Seiten starke Buch zum Thema im Rathaus-Verlag der Stadt Marburg. „Das unvergleichliche Verbrechen des Holocaust war systematisch, bürokratisch und industriell organisiert“, sagte Oberbürgermeister Dr. Thomas Spies bei der Vorstellung des Gedenkbuchs im voll besetzten Rathaussaal vor über 130 Gästen.
An der Veranstaltung nahmen neben dem Oberbürgermeister und Landrätin Kirsten Fründt auch Kommunalpolitikerinnen und -politiker aus dem Stadt- und Kreisparlament, Vertreterinnen und Vertreter mehrerer Kreiskommunen sowie Sabine Preisler, Leiterin des Fachdienstes Presse- und Öffentlichkeitsarbeit und des Rathaus-Verlags, Dr. Richard Laufner, Fachdienstleiter Kultur (Stadt) und Dr. Markus Morr, Fachdienstleiter Kultur (Landkreis) teil.
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Neben der Vorsitzenden der Geschichtswerkstatt, Elisabeth Auernheimer, ihrem Stellvertreter Harald Maier-Metz und dem Autor Dr. Klaus-Peter Friedrich waren auch fast alle der weiteren 25 Autorinnen und Autoren des Buches gekommen. „Warum noch ein Buch zu dem Thema, mögen sich manche fragen, wo doch die Fakten bekannt sind“, fuhr der Oberbürgermeister fort. Aber: „Wir verstehen Geschichte nicht durch eine Aneinanderreihung von abstrakten Zahlen, sondern aus dem empathischen Erlebnis, daraus, wenn hinter den Zahlen konkrete Menschen sichtbar werden und ihr Schicksal uns berührt.“ Die NS-Diktatur habe ihre Opfer auf einzigartige Weise entmenschlicht. „Das darf nie wieder passieren, deshalb das Buch, damit Vergangenheit nicht vergangen ist“, so Marburgs Stadtoberhaupt. „Aus dem Holocaust erwächst für uns die Pflicht, jeglichem Antisemitismus, aber auch allen anderen Formen der Menschenfeindlichkeit mit allen Mitteln des Rechts, der Bildung, der Kultur und der wehrhaften Demokratie entschieden entgegenzutreten – heute mehr denn je“, so Spies, „in unserer Gesellschaft ist kein Platz für Faschisten und Menschenfeinde".
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„75 Jahre umfassen die Dauer eines durchschnittlichen Menschenlebens“, machte Landrätin Fründt deutlich. „Viele Menschen werden auch deutlich älter. Doch einer unglaublichen hohen Anzahl von Menschen war es damals nicht vergönnt, ein ,normales‘ Lebensalter zu erreichen. Vor allem Menschen jüdischen Glaubens sowie Sinti und Roma wurden unter dem brutalen und unmenschlichen Naziregime ermordet.“ Die Verfolgung habe nicht weit weg stattgefunden, sondern auch in Marburg und den anderen Städten und Gemeinden im heutigen Kreisgebiet. „Insofern handelt es sich um heimische Geschichte und sollte nicht in Vergessenheit geraten“, betonte die Landrätin, die das Buch an den Schulen verteilen lassen will. Den Schmerz und das Leid der Betroffenen könne man nicht annähernd erahnen. Gerade deshalb seien die Einzelschicksale im Buch so beeindruckend, in denen auch persönliche Empfindungen, Sorgen, Ängste und Hoffnungen nachvollziehbar würden.
Die gesammelten Beiträge des Buchs, das ab sofort für 12,90 Euro erhältlich ist, gehen dem Schicksal der jüdischen Deutschen und der Sinti in Marburg und in den Kleinstädten und Dörfern der Altkreise Marburg und Biedenkopf nach, berichtete Klaus-Peter Friedrich für die Geschichtswerkstatt. Sie geben Einblick in die Vielfalt jüdischen Lebens bis in die 1930er Jahre. Und sie beschreiben den von Gewalt geprägten Prozess der Ausgrenzung, Entrechtung, Vertreibung und Verschleppung – von Uni-Bediensteten, kleinen Angestellten und alteingesessenen Marburger Geschäftsleuten über Vieh- und Kleinhändler oder Nebenerwerbslandwirte aus dem Umland bis zum letzten jüdischen Kind, das 1933 in Breidenbach geboren wurde.
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„Der Abtransport ,in den Osten‘ bedeutete für fast alle der aus Rassismus Verfolgten eine Deportation in den Tod“, so Friedrich, „aus dem zweiten Marburger Transport in die Todeslager von Lublin-Majdanek und Sobibór gab es keinen einzigen Überlebenden“.
Auch die Marburger Widerstandskämpferin Marie Luise Hensel überlebte die NS-Diktatur nicht. Professorin und Mitautorin Marita Metz-Becker widmete Hensel ein Kapitel im Buch und einen Kurzvortrag in der Veranstaltung. Die „Gerechte unter den Völkern“ bezahlte die versuchte Fluchthilfe für eine jüdische Familie 1942 mit ihrem Leben.
Der Schauspieler Frank Winterstein rezitierte im Rathaussaal aus dem neuen Buch, unter anderem aus den Briefen der jungen Ebsdorferin Henni Höchster oder den Erinnerungen der Mombergerin Gisela Spier-Cohen, als Kind 1942 deportiert nach Theresienstadt und Anfang Mai 1945 halbverhungert von US-amerikanischen Truppen aus dem KZ Mauthausen befreit. Zwischen seinen Beiträgen sang der Politöne unter anderem den „Theresienstädter Marsch“ sowie ein Lied gefangener Kinder aus dem KZ, jüdische Lieder und Gesänge von Überlebenden.
Einzelne der Deportierten kehrten, zumeist nur vorübergehend, in eine ihnen fremd gewordene Heimat zurück. „So ergaben sich nach 1945 Anknüpfungspunkte für eine kritische Erinnerungskultur vor Ort, die seit Ende der 1970er Jahre zu einer Befreiung von Denkschablonen der NS-Zeit beigetragen und einen Bewusstseinswandel in Gang gesetzt hat“, betonte Friedrich.
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Im Namen der Geschichtswerkstatt bedankte sich Elisabeth Auernheimer bei allen Autorinnen und Autoren, der Stadt Marburg und dem Rathaus-Verlag sowie allen weiteren Unterstützen und Sponsoren, allen voran der Sparkasse Marburg-Biedenkopf. Deren Vorstandsvorsitzender Andreas Bartsch begründete das Engagement der Sparkasse mit den Worten: „Menschlichkeit und Demokratie bedürfen der Erinnerung an Unrecht und Barbarei“. Und weiter: „Der 75. Jahrestag der Deportationen aus der Stadt Marburg und dem Landkreis Marburg-Biedenkopf ist ein Datum, an dem uns besonders bewusst wird, warum es wichtig ist, für Werte wie Humanismus, Respekt und Toleranz einzustehen. Die Geschichtswerkstatt Marburg ist daher für mich unverzichtbar, und gerne unterstützt die Sparkasse sie nicht nur ideell, sondern auch mit einem größeren Spendenbetrag." Den symbolischen Scheck in Höhe von 12.000 Euro übergab Bartsch im Anschluss an Auernheimer, Maier-Metz und Friedrich von der Geschichtswerkstatt.
Auch OB Spies und Landrätin Fründt dankten der Geschichtswerkstatt für ihr herausragendes Engagement, die mit ihrer Forschungsarbeit die Erinnerung und Aufarbeitung des dunkelsten Kapitels der deutschen Geschichte ermöglicht habe.
© Stadt Marburg, Birgit Heimrich
Der Oberbürgermeister übergab am Ende der Veranstaltung persönlich ein Exemplar des Gedenkbuchs an die Amerikanerin Rachel Drucker, die mit Barbara Wagner von der Geschichtswerkstatt zur Veranstaltung gekommen war. Die junge Frau ist eine Urenkelin des Ehepaars Drucker aus Ockershausen, das nach Theresienstadt deportiert und dort ermordet wurde. Einer der Söhne, Rachels Druckers Großvater, konnte in die USA fliehen.
Ab sofort im Rathaus und im Buchhandel für 12,90 Euro erhältlich
Für den städtischen Rathaus-Verlag, in dem das Buch in der Reihe der Marburger Stadtschriften zur Geschichte und Kultur (Band 108) erscheint, hatte die Fachdienstleiterin der Presse- und Öffentlichkeitsarbeit, Sabine Preisler, die Gäste des Empfangs begrüßt. „Gewidmet ist der heutige Abend den Opfern des Holocaust“, sagte Preisler und zitierte Siegfried Lenz mit den Worten „Unversöhnt mit der Vergangenheit sind wir umso leidenschaftlicher für den Frieden“.
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Gleichzeitig kündigte sie die nächste Publikation an, die noch in diesem Jahr erscheint und die Rolle der kommunalen Gremien der Stadt Marburg im Nationalsozialismus aufarbeitet.
Das Gedenkbuch enthält über 150 Fotos, zumeist aus privaten, bisher nicht veröffentlichten Sammlungen. Die 26 Autorinnen und Autoren sind engagierte, der Heimatforschung verpflichtete Bürgerinnen und Bürger, die sich seit langem mit der jüdischen Vergangenheit und der Geschichte der Sinti in ihrem Ort beschäftigen – unter ihnen aktive und pensionierte Lehrerinnen und Lehrer, ein angehender Student und mehrere Universitätsprofessoren. Fast 100 Exemplare des Buches wurden bereits am Veranstaltungsabend am Büchertisch im Rathausfoyer verkauft.
Das Gedenkbuch im Rathaus-Verlag kostet 12,90 Euro, ISBN 978-3-942487-10-8. Es ist beim Fachdienst Presse- und Öffentlichkeitsarbeit, Rathaus, Markt 8, (06421) 201-1346, sowie im Buchhandel erhältlich und kann unter oeffentlichkeitsarbeit@marburg-stadt.de sowie per Online-Formular auf www.marburg.de/stadtschriften auch bestellt werden.
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