„,Menschen sind nicht behindert, Menschen werden behindert‘ - wenn wir uns diesen Grundsatz zu allen Zeiten klar machen und die Behinderungen beseitigen, dann sind wir in der Frage, was Inklusion bedeutet, ein großes Stück weitergekommen“, betonte Oberbürgermeister Dr. Thomas Spies im voll besetzten Historischen Rathaussaal vor rund 80 Gästen. Bürgermeister Dr. Franz Kahle, der ehemalige Oberbürgermeister und Ehrenbürger Egon Vaupel sowie Mitglieder des Magistrates und der Stadtverordnetenversammlung waren zur Würdigung der Preisträger zusammengekommen.
Der Preis soll dafür sorgen, dass wir niemanden mehr behindern, weder im baulichen, noch im kulturellen und in jedem Lebensbereich“, betonte das Stadtoberhaupt. Oberbürgermeister Dr. Thomas Spies verlieh den in diesem Jahr mit 14.000 Euro dotierten ersten Preis an die Deutsche Blindenstudienanstalt (Blista) und den Verein Theater GegenStand für ihr gemeinsames Projekt „Hürdenlauf – Straßentheater für Menschen mit Behinderung“. Mitten im öffentlichen Leben in Marburg sollen Barrieren an verschiedenen Orten durch inszenierte Szenen aufgezeigt werden. Menschen mit und ohne Behinderungen spielen Gegebenheiten vor, in denen Menschen mit den unterschiedlichsten Handicaps auf Barrieren treffen. Dies soll sowohl sichtbar als auch unsichtbar gespielt werden. Unsichtbar insofern, dass die Zusehenden nicht wissen, dass es sich um ein inszeniertes Ereignis handelt. Ziel ist, dass sich bisher Unbeteiligte aktiv mit der aufgezeigten Thematik auseinandersetzen.
„Alltagserfahrungen werden dabei in den Blick genommen“, erläuterte die Kuratoriumsvorsitzende Susanne Holz in ihrer Laudatio aus der Projektbeschreibung der Preisträger. Wie beispielsweise ein Lokal in der Innenstadt, bestens zugänglich mit breiten Türen, einer Rampe und barrierefreien Toiletten – nur leider ausschließlich möbliert mit Hochtischen und Barhockern. „Der Gast im Rollstuhl verbringt den Abend auf Augenhöhe mit der Tischkante“, stellte Holz fest. Straßentheater könne Menschen mit Behinderung und ihre Bedürfnisse bei der Gestaltung der Stadt anschaulich sichtbar machen. Das Publikum, die Bürgerinnen und Bürger genau wie Besucherinnen und Besucher der Stadt würden für sichtbare und unsichtbare Barrieren sensibilisiert, könnten darüber nachdenken und sprechen, so Susanne Holz. Dadurch werde die Stellung von Menschen mit Behinderung als aktive Mitgestaltende in der Stadt gefestigt.
„Gleichzeitig bietet das Theaterprojekt die Möglichkeit der kulturellen Teilhabe von Menschen mit Behinderungen, in das sie ihre ganz spezifischen Erlebnisse mit Barrieren einbringen“, freute sich die Laudatorin. Das Projekt ist offen für jede Person mit und ohne Behinderung. Die Umsetzung ist bis Sommer 2017 geplant.
Den mit 6000 Euro dotierten zweiten Preis überreichte das Stadtoberhaupt an den Kreisverband des Deutschen Roten Kreuzes (DRK) Marburg für das Projekt „Augen auf: Erste Hilfe für Blinde und Sehbehinderte“. Bisher bundesweit einmalig hat das DRK Erste-Hilfe-Lehrgänge für Blinde und Sehbehinderte entwickelt, die ungekürzt den gesamten Inhalt eines Erste-Hilfe-Kurses vermitteln, machte Kuratoriumsvorsitzende Susanne Holz deutlich.
Dabei wird berücksichtigt, dass Blinde und Sehbehinderte in anderer Weise an die Inhalte und Praxis herangeführt werden müssen. Diese Kurse sollen regelmäßig angeboten werden, so dass alle ihr Wissen auffrischen können. Mit diesen Kursen werde ein Beitrag zu Selbstständigkeit, Selbstbewusstsein und gleichberechtigter Teilhabe am öffentlichen Leben geleistet, betonte Holz. Denn formal sei die erfolgreiche Teilnahme an einem Erste-Hilfe-Kurs beispielsweise die Voraussetzung für die Zulassung zum zweiten Staatsexamen beim Lehramtsstudium in Hessen, für den Erwerb des Sportübungsleiterscheins, für die Tätigkeit als betriebliche Ersthelfer/in, die Zulassung zum Physikum oder für die Jugendgruppenleiterausbildung, machte die Kuratoriumsvorsitzende bewusst. „Das DRK wird das Preisgeld für die Überarbeitung der vorhandenen Lehrunterlagen, die komplett barrierefreie Gestaltung der Website und die Anschaffung eigener Modelle zum Ertasten verwenden“, erläuterte Susanne Holz.
Mit seiner Persönlichkeit habe Jürgen Markus zu Lebzeiten wie kein anderer dazu beigetragen, dass sich in Marburg ein Bewusstsein für Barrierefreiheit und die Belange von behinderten Menschen entwickelt habe, machte Stadtoberhaupt Dr. Thomas Spies bei der Preisverleihung bewusst. Durch seine „freundlich erzwingende Weise“ habe Markus es geschafft, die Sensibilität für die Belange von Menschen mit Behinderung in der Marburger Politik voranzubringen und weiterzuentwickeln, hob Spies hervor.
Mit seiner wertschätzenden Art sei Jürgen Markus zudem Ratgeber gewesen für Bürgerinnen und Bürger, aber vor allem für die Stadtverwaltung in zahlreichen Fragen, wenn es darum ging, Barrierefreiheit in den Blick zu nehmen und umzusetzen. „Dabei war Markus nicht nur kompetent, sondern er besaß auch die Gabe am Ende immer einen Kompromiss zu finden, der auch in der Wirklichkeit praktikabel war“, so der Oberbürgermeister. Mit seinem Engagement für Barrierefreiheit und seiner konsequenten Bemühung, die Teilhabechancen von Menschen in allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens zu verbessern, habe er Maßstäbe gesetzt.
Nach Markus Tod im Jahr 2010 wurde vielfach der Wunsch geäußert, ihn für sein enormes Engagement, aber auch seine beeindruckende Persönlichkeit zu ehren. Über alle Parteigrenzen hinweg wurde von der Stadtverordnetenversammlung einstimmig beschlossen, einen mit 20.000 Euro dotierten Preis von Seiten der Stadt zu stiften, der erstmals im Jahr 2012 verliehen wurde. Die Auszeichnung wird an preiswürdige Projekte vergeben, über die Anzahl der Preisträger/innen entscheidet das Kuratorium, erklärte Spies. Der Jürgen-Markus-Preis will beispielhaftes und engagiertes Wirken belohnen und anerkennen und dazu beitragen, neue Ideen anzuregen und deren Umsetzung zu fördern.
Zur Person Jürgen Markus
Jürgen Markus wurde 1957 in Bad Driburg in Ostwestfalen geboren. Ende der 70er Jahre kam er zum Studium nach Marburg. Im Februar 1982 zog er sich beim Sport-Dies der Philipps-Universität durch einen Unfall irreparable Verletzungen im Halswirbelbereich zu, was eine dauerhafte Querschnittlähmung zur Folge hatte. Die neue Situation stellte ihn vor ungeahnte Herausforderungen in seinen elementaren Lebensbereichen.
Sein „zweites Leben“ – wie er es selber nannte – war geprägt vom Kampf für ein menschenwürdiges und selbstbestimmtes Leben für Menschen mit Behinderungen. Er engagierte sich in der Krüppelinitiative Marburg (KRIM) und im Verein zur Förderung der Inklusion behinderter Menschen (fib), den er lange Jahre als Vorsitzender maßgeblich prägte. Kommunalpolitisch war er von 1998 bis 2007 als Stadtverordneter von Bündnis 90/Die Grünen im Stadtparlament tätig, vor allem im Bauausschuss im Bereich Stadtentwicklung. Den Behindertenbeirat hat er 1997 mit auf den Weg gebracht und bis zu seinem Tod als stellvertretender Vorsitzender durch seine Persönlichkeit ebenfalls stark geprägt.
Dass in Marburg Barrierefreiheit über alle Parteigrenzen hinweg gefördert und gefordert und der Behindertenbeirat in Entscheidungen eingebunden wird, die Menschen mit Behinderungen betreffen, ist vor allem der Verdienst von Jürgen Markus, der die Gabe hatte, Menschen zu gewinnen, indem er ihnen mit Wertschätzung begegnete.
In den letzten Jahren seines Lebens musste er sich sukzessive zurücknehmen und Ämter abgeben, da er zunehmend mit gesundheitlichen Folgeproblemen seiner Verletzungen zu kämpfen hatte. Im Februar 2010 starb er im Alter von 52 Jahren.