© Stadt Marburg, Sabine Preisler
Auf welch großes Interesse das Thema stößt, zeigte der mit etwa 200 Menschen voll besetzte Stadtverordnetensitzungssaal. Die beiden Studien Teil 1 (bis 1945), Teil 2 (ab 1945) sind auf www.marburg.de öffentlich zugänglich. Sie werden zudem in der Reihe der Marburger Stadtschriften publiziert. Es handelt es sich für Marburg um die erste systematische Erforschung des Fragekomplexes der "doppelten Vergangenheit", also der Vergangenheit des NS-Regimes an sich und der Vergangenheit des Umgangs mit dieser ersten NS-Vergangenheit nach 1945 sowie der Wirkungsgeschichte des Nationalsozialismus über 1945 hinaus.
„Wir danken Professor Conze und seinem Team für ihre hervorragende Arbeit an den beiden heute vorgestellten Studien, die es uns erlauben werden, die nationalsozialistische Vergangenheit Marburgs besser zu verstehen und die richtigen Schlüsse daraus zu ziehen“, waren sich Oberbürgermeister Spies und Stadtverordnetenvorsteherin Wölk einig. „Diesen schrecklichen Teil unserer Geschichte aufzuarbeiten, zu untersuchen und einzuordnen, ist nicht leicht, aber es ist wichtig“, stellte Spies fest. „Das schulden wir den Opfern des NS-Terrors. Das schulden wir uns selbst, um Unrecht aufzuklären, es heute und in der Zukunft zu verhindern“, so das Stadtoberhaupt.
Wölk erinnerte in ihrer Begrüßung daran, dass die Stadtverordnetenversammlung am 26. April 2013 beschlossen hat, eine Studie mit dem Ziel in Auftrag zu geben, Zusammensetzung und Arbeit städtischer Gremien in der NS-Zeit zu untersuchen und die Ergebnisse der Öffentlichkeit vorzustellen. Der Oberbürgermeister dankte der Linkspartei, die mit ihrem Antrag seinerzeit den Anstoß für die Untersuchungen gegeben habe. Im Mai 2015 lag laut Wölk der erste Teil der Studie bis 1945 im Ältestenrat vor, der einvernehmlich beschlossen habe, auch die Jahre nach dem Ende des Nationalsozialismus bis in die 80er Jahre in Augenschein nehmen zu lassen, um die NS-Vergangenheit der Stadtverordneten und Magistratsmitglieder zu überprüfen.
Professor Conze stellte die Ergebnisse der beiden Studien gemeinsam mit Alexander Cramer, Sarah Wilder und Dirk Stolper in Marburg vor. Zuvor hatten sie sich mehr als zwei Jahre lang mit den „verschiedenen Facetten und Aspekten der lokalen Ausprägungs- und Wirkungsgeschichte des Nationalsozialismus“ befasst. „Wir haben jetzt ein umfassendes Bild der nationalsozialistischen Belastungen vor und nach 1945“, betonte Conze. Und das sei eine wichtige Verknüpfung von Geschichte und Wirkungsgeschichte. „Die nur vermeintliche Stunde null stand gerade biografisch auch für Kontinuität, dadurch relativiert sich die vermeintliche Zäsur“, sagte der Professor.
© Stadt Marburg, i.A. Heiko Krause
In der ersten Studie untersuchte die Historikergruppe die Marburger Kommunalpolitik im Nationalsozialismus. Beginnend mit der Machtergreifung Hitlers bis hin zum Ende des Zweiten Weltkrieges waren die Abschaffung der demokratischen Strukturen, die Verfolgung von Jüdinnen und Juden und von politischen Gegnern sowie die Magistratsmitglieder und Stadtverordneten der Zeit Untersuchungsgegenstand.
In ihrem Vortrag zur ersten der beiden Studien ging es den Historikerinnen und Historiker nicht zuletzt um eine Einschätzung zur Person von Walter Voß, der seit 1939 die „Gemeindeangelegenheiten leitete“ und später zum kommissarischen Oberbürgermeister ernannt wurde: „Er galt nach 1945 als entlastet, obwohl er 1933 Mitglied der NSDAP geworden und in der Folge der Machtübernahme für die Verfolgung der Marburger Arbeiterparteien verantwortlich gewesen war. Zusätzlich war Voß förderndes Mitglied der SS sowie des NS-Fliegerkorps gewesen und wurde mit Beginn des Zweiten Weltkriegs unabkömmlich gestellt. In der Folge wurde er mit dem Kriegsverdienstkreuz II. Klasse ausgezeichnet.“
Gerade zu Beginn der NS-Herrschaft habe Voß seine Person und Position als Bürgermeister „in eine günstige Stellung gebracht und während der gesamten zwölf Jahre zur Durchsetzung und zum Funktionieren des NS-Regimes, einschließlich seiner Verfolgungs- und Gewaltpolitik beigetragen.“ Seine Entlastung vor einer Spruchkammer im Entnazifizierungsverfahren resultiere aus seinem „angeblichen Einsatz für die kampflose Übergabe der Stadt an die Amerikaner sowie seiner Verdrängung aus dem Sparkassenvorstand 1938, wodurch er finanzielle Nachteile erlitten hatte.“
Zur Ausschaltung der Arbeiterparteien aus den Parlamenten war nach den Märzwählen 1933 immer stärker auf das Mittel der Schutzhaft zurückgegriffen worden. Dieses Schicksal ereilte unter anderem die SPD-Mitglieder August Eckel, Justus Bötzel und Georg Gaßmann sowie die Kommunisten Theodor Abel, Oskar Geiler, Heinrich Schneider und Gustav Schmidt. Die Unterschrift unter die Haftbefehle leistete Walter Voß.
© Stadt Marburg, i.A. Heiko Krause
Die Reichspogromnacht und die folgenden drei Deportationswellen von Marburg nach Riga und Theresienstadt, so die Historikerinnen und Historiker, waren in den offiziellen Schreiben der Kommunalverwaltung zwar „nie öffentlich zur Sprache“ gekommen. Doch wurde von der Marburger Stadtleitung der Entzug jüdischen Eigentums aktiv vorangetrieben. "In personeller Hinsicht war mit SA-Brigadeführer Fritz Vielstich allerdings ein Marburger Gemeinderat unmittelbar an der Zerstörung der Synagoge in der Universitätsstraße beteiligt“, so die Studie. Weiter wurde etwa der Entzug von Eigentum nachträglich durch die Stadtoberen legitimiert.
Von 176 Nachkriegsstadtverordneten waren 54 früher Mitglied der NSDAP
In der zweiten Studie betrachteten Professor Conze und sein Team die NS-Belastung der Marburger Kommunalpolitik nach 1945. Dabei stellten sie fest, dass von insgesamt 176 untersuchten Stadtverordneten, die aufgrund ihres Geburtsdatums bis 1928 für eine Mitgliedschaft in der NSDAP in Frage kamen, 54 Personen, also 30,6 Prozent, Mitglied der NSDAP gewesen waren. „Dieser Wert liegt deutlich über den Anteilen in den bislang primär untersuchten Landesparlamenten, insbesondere der Länder Hessen, Niedersachsen, Bremen und dem Saarland. Einzig Schleswig-Holstein erzielte einen noch höheren Wert als Marburg und gilt damit als absoluter Ausreißer“, stellten sie in ihrem Vortrag fest.
Wichtig, so Conze, sei es den Wissenschaftlern gewesen, die Personen auf mehreren Ebenen zu betrachten, sie auf funktionale Belastung zu überprüfen, etwa als Polizisten oder Beamte, und nicht zuletzt das individuelle Handeln im Dritten Reich zu untersuchen.
„In vier Fällen waren hauptamtliche Magistratsmitglieder während des Dritten Reichs Mitglieder der nationalsozialistischen Partei gewesen, namentlich Oberbürgermeister Karl Theodor Bleek und Ernst Bolz von der FDP, Dr. Georg Zellmer von der CDU sowie Hans Ballmaier von der Vereinigung unabhängiger Bürger“, heißt es in der Studie weiter. Auch Mitgliedschaften in den NS-Kampfverbänden SA, SS oder NS-Kraftfahrkorps (NSKK) waren Teil der Analyse: zwölf Personen konnte eine Mitgliedschaft in mindestens einer der Organisationen nachgewiesen werden.
© Stadt Marburg, i.A. Heiko Krause
Anhand von ausgewählten Biographien zeigten die Historikerinnen und Historiker, „wie sich die politische Positionierung mancher Menschen aus verschiedensten Gründen während der zwölf Jahre NS-Diktatur verändern konnte. In vielen Einzelfällen lassen sich die Jahre zwischen 1933 und 1945 eben nicht auf ein abschließendes Urteil eindampfen, sondern weisen scheinbare Widersprüche auf, die jedoch nebeneinander existieren konnten. So war es möglich, dass manche Menschen beides waren: NS-Verfolgte und Funktionäre des Regimes“, heißt es in der Studie unter anderem über den Stadtverordneten Gustav Rohr, während beispielsweise Bodo Schaub eine „aktivistische Beteiligung am Nationalsozialismus“ nachgewiesen werden konnte.
Bekanntester der untersuchten Kommunalpolitiker war Karl Theodor Bleek, der von 1946-1951 Oberbürgermeister war, zeitgleich Mitglied des Hessischen Landtags und später Leiter des Bundespräsidialamtes. Über ihn sagten Professor Conze und sein Team: „Aus heutiger Perspektive können wir feststellen, dass sich Karl Theodor Bleek durch das Verschweigen seiner NSDAP-Mitgliedschaft einen entscheidenden Vorteil schuf und darauf seine politische Karriere aufbaute. Die Parteimitgliedschaft an sich muss jedoch im Kontext des Dritten Reichs und nicht der Nachkriegszeit betrachtet werden. Demnach ergibt sich ein Bild, das Bleek vor allem als kompromissfähigen Beamten zeigt, der gewillt war mit dem NS zusammenzuarbeiten und wohl aus Opportunismus und wegen besserer Karrierechancen der NSDAP beitrat.“ Für eine weitergehende Bewertung seiner Person seien zusätzliche Untersuchungen notwendig, die insbesondere seine Zeit in Breslau beträfen.
Am Ende ihres Vortrags resümierten Conze, Cramer, Wilder und Stolper: „Die gerade vorgestellten Biographien, mit ihren unterschiedlichen Aspekten von NS-Belastung, haben uns vor Augen geführt, wie wichtig eine differenzierte Betrachtung dieses Forschungsfeldes ist.“ Alle Stadtverordneten und Magistratsmitglieder müssten auf ihre „individuelle Beteiligung am NS-System hin untersucht werden; die Ergebnisse bedürfen einer kritischen Einordnung“. Dabei zeige sich oftmals, dass viele Lebenswege nicht in ein Schwarz-Weiß-Schema passten. Eine solche Vereinfachung würde „der Lebenswirklichkeit im Nationalsozialismus nicht gerecht werden und ein allzu einfaches Bild des Dritten Reichs zeichnen.“
In der abschließenden Diskussion kam von vielen Bürgern die Frage, warum erst so spät mit der Aufarbeitung begonnen wurde. Conze sprach von einer kollektiven Verdrängung in der Wirtschaftswunderzeit, der Blick sei nur nach vorne gerichtet gewesen. Den Wählern, so Wilder, sei die Vergangenheit Einzelner wohl auch nicht bekannt gewesen. Aber selbst in den 1960er Jahren unter dem Nazi-Opfer, SPD-Oberbürgermeister Georg-Gaßmann, habe es noch keine Aufarbeitung gegeben. Conze verwies darauf, dass die erste Nachkriegsgeneration oft auch nicht gegen persönliche Förderer vorgehen wollte. Erst heute mit dem ausreichenden Abstand sei eine umfassende Aufarbeitung gewünscht.
Nach Voß und Bleek sind Straßen in Marburg benannt. „Wir werden die rund 600 Seiten umfassenden Studien jetzt in Ruhe auswerten und in größtmöglichem Konsens mit allen Parteien in der Stadtverordnetenversammlung und den Bürgerinnen und Bürgern entscheiden, welche Konsequenzen für die Universitätsstadt Marburg zu ziehen sind“, bat Oberbürgermeister Spies alle Interessierten um Unterstützung. „Kritisches Erinnern ist in jedem Fall besser, als einfach nur zu entsorgen“, so Professor Conze.
Professor Eckart Conze lehrt und forscht an der Philipps-Universität Marburg am Seminar für Neuere Geschichte. Er war unter anderem Sprecher der „Unabhängigen Historikerkommission zur Aufarbeitung der Geschichte des Auswärtigen Amts in der Zeit des Nationalsozialismus und in der frühen Bundesrepublik“, die von 2005 bis 2010 arbeitete.
Rede von Prof. Eckart Conze, Alexander Cramer, Sarah Wilder und Dirk Stolper vom 22.11.2016 im Marburger Stadtverordnetensitzungssaal
„Meine sehr verehrten Damen und Herren, liebe Zuhörerinnen und Zuhörer, wir freuen uns, Ihnen heute Abend die Ergebnisse unserer beiden Studien zur Marburger Stadtgeschichte im 20. Jahrhundert vorstellen zu können. Über mehr als zwei Jahre hinweg haben wir uns mit verschiedenen Facetten und Aspekten der lokalen Ausprägungs- und Wirkungsgeschichte des Nationalsozialismus befasst.
In einem ersten Teil des heutigen Vortrags wird es um die Marburger Stadtleitung im Dritten Reich gehen, bevor wir uns anschließend dem Thema der NS-Belastung nach 1945 widmen. Vor dem Hintergrund der Entwicklungen des Dritten Reichs haben wir die Frage sowohl nach personellen, institutionellen als auch inhaltlichen Kontinuitäten und Brüchen in der hiesigen Stadtpolitik im Übergang von der Demokratie zur Diktatur behandelt.
„Dass auch hier in der Stadt Marburg der Wille des Führers erfüllt wird.“ So formulierte der im April 1934 neu eingesetzte Oberbürgermeister Dr. Ernst Scheller den politischen Anspruch der städtischen Leitung. Die Amtseinführung Schellers markierte in der Marburger Kommunalgeschichte einen stabilisierenden sowie katalytischen Moment, von dem aus die Nationalsozialisten ihre Machtstellung in der Stadtleitung endgültig konsolidierten. In den Jahren nach der Machtergreifung wurde durch die Abschaffung der demokratischen Selbstverwaltungskörperschaften und die schrittweise Einführung des Führerprinzips auf lokaler Ebene die kommunale Selbstverwaltung im diktatorischen Sinne des NS-Regimes umgestaltet.
Die vollständige Zerstörung des Institutionengefüges der Weimarer Republik, also der Stadtverordnetenversammlung und des Magistrats, bildet neben den personellen Austauschprozessen einen zweiten Schwerpunkt in unserer Analyse. Beide Entwicklungen waren dabei eng miteinander verknüpft.
Die auch in Marburg aufstrebende NSDAP konnte zunächst bis 1930 keine nennenswerten Erfolge feiern, abgesehen von der Ausrichtung des „Nationalsozialistischen Hessentags“ im Jahr 1928. Unter Ortsgruppenleiter Hans Krawielitzki begann der Aufstieg der NSDAP, was sich sowohl in Mitgliederzahlen, Veranstaltungen wie auch in Wahlergebnissen zeigte. Seit Beginn der Dreißigerjahre kippte das ohnehin rechtskonservative Klima der Stadt zunehmend in eine völkisch-nationalsozialistische Richtung. Eine Diskrepanz zur schwachen Repräsentanz der NSDAP in der Stadtverordnetenversammlung, die 1929 nur ein Mandat gewinnen konnte, wurde immer deutlicher. Die zunehmenden politischen Auseinandersetzungen außerhalb der Stadtverordnetenversammlung, vor allem zwischen der NSDAP und SA auf der einen Seite, sowie den beiden Arbeiterparteien und ihren Verbänden auf der anderen Seite, wurden in den städtischen Gremien nur am Rande thematisiert. Dies trug dazu bei, dass man hier, wie anderswo, die Entwicklungen des Nationalsozialismus unterschätzte. Die spürbare Straßenpräsenz der Nationalsozialisten zeigte sich auch in diversen Feiern mit Größen der Bewegung. Euphorisch bejubelt wurde vor diesem Hintergrund etwa der Besuch Hitlers in Marburg anlässlich seines 43. Geburtstages am 20. April 1932. Bei den folgenden Reichstagswahlen im Sommer 1932 erreichte die Partei die absolute Mehrheit im Wahlkreis Marburg-Stadt und steigerte ihr Ergebnis nochmals bei den schon nicht mehr freien Reichstagswahlen am 5. März 1933.
Die Machtübertragung auf Adolf Hitler und die NSDAP auf der Reichsebene markierte auch im Marburger Kontext eine einschneidende Zäsur. Charakteristisch war in diesem Umfeld das Zusammenspiel der revolutionären, widerrechtlichen Umwälzungen von unten und der Nutzung der durch die Verfassung gegebenen Kompetenzen von oben. Die Stadtverordnetenversammlungen in Preußen wurden, wie zuvor der Landtag, aufgelöst und Neuwahlen für den 12. März 1933 angesetzt. Auch diese Wahlen waren nicht mehr frei und demokratisch, da besonders SPD und KPD unter massiven Einschränkungen ihres Wahlkampfes seitens der aus SA, SS und Stahlhelm bestehenden Hilfspolizei zu leiden hatten. So wurde beispielsweise der Spitzenkandidat der KPD, Oskar Müller, schon im Februar 1933 verhaftet. Vor diesem Hintergrund ist es bemerkenswert, dass die Kommunisten erstmals seit 1924 wieder in die Stadtverordnetenversammlung einziehen konnten und die SPD kaum Stimmverluste erlitt. Nichtsdestoweniger gingen 55 Prozent der Stimmen und damit 20 der 30 Stadtverordnetenmandate an die NSDAP.
Besonders frappierend ist der Einbruch der Wählerstimmen bei den Interessenverbänden. Während sie 1929 noch 14 der 30 Sitze in der Stadtverordnetenversammlung gewinnen konnten, errangen sie 1933 nur noch ein Mandat und waren somit marginalisiert. Die ideologische Leere dieser parteiungebundenen Verbände bildete für die NSDAP ein Einfallstor in breitere Wählerschichten, und auch der massive Stimmverlust der DVP zeigte darüber hinaus, wie attraktiv die Partei mittlerweile für die bürgerliche Wählerschaft geworden war.
Ein wichtiger Schritt zur Übernahme der endgültigen Kontrolle über die Marburger Stadtpolitik war für die Nationalsozialisten die Absetzung des Oberbürgermeisters Johannes Müller. Zwischen diesem und der NSDAP hatte es bereits zu Weimarer Zeiten massive Spannungen gegeben und die Partei war unter keinen Umständen bereit, mit dem alten Stadtoberhaupt zusammenzuarbeiten. Nach den Feiern zur gewonnenen Reichstagswahl 1933 wurde die von der NSDAP geforderte Beflaggung mit einer Hakenkreuzfahne auf der Ortskrankenkasse boykottiert, wofür die Nationalsozialisten den Oberbürgermeister verantwortlich machten. Unter massivem persönlichem Druck musste Müller am 28. März 1933 seine Beurlaubung beim Kasseler Regierungspräsidenten beantragen, die prompt gewährt wurde. Die Absetzung des Oberbürgermeisters bildete aber nur den Startschuss für eine weitgehende Umstrukturierung des Gemeindevorstands und eine Ausschaltung der politischen Gegner in der Stadtverordnetenversammlung.
Während der KPD-Stadtverordnete Oskar Müller die Benachrichtigung über seine Wahl im Amtsgerichtsgefängnis erhielt, boykottierten die SPD-Stadtverordneten die konstituierende Sitzung Anfang April 1933. Die KPD-Mandate wurden schon im März 1933 für unwirksam erklärt und die Partei verboten. Die SPD blieb dagegen noch bis zum Sommer nominell zur Ausübung ihrer Mandate berechtigt, wobei sie in Marburg durch die NSDAP daran gehindert wurde und nicht mehr zu den Stadtverordnetensitzungen eingeladen war. Zur Ausschaltung der Arbeiterparteien außerhalb der Parlamente wurde nach den Märzwahlen immer stärker auf das Mittel der Schutzhaft zurückgegriffen. Dieses Schicksal ereilte in Marburg unter anderem die SPD-Mitglieder August Eckel, Justus Bötzel und Georg Gaßmann sowie die Kommunisten Theodor Abel, Oskar Geiler, Heinrich Schneider und Gustav Schmidt. Letztere wurden zudem in das bei Kassel gelegene Schutzhaft- und spätere Konzentrationslager Breitenau eingewiesen. Die Unterschrift unter alle Haftbefehle nach der Absetzung Müllers, sowohl gegen Kommunisten wie auch Sozialdemokraten, leistete als Ortspolizeibehörde der Leiter der Verwaltung, zu diesem Zeitpunkt Bürgermeister Walter Voß. Darüber hinaus verloren diverse KPD- und SPD-Mitglieder unter dem Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums ihre städtischen Anstellungen und wurden damit ihrer Existenzgrundlage beraubt. Bedeutend widerstandsloser verlief dagegen die Ausschaltung der bürgerlichen Parteien und des Zentrums, die sich Ende Juni/Anfang Juli 1933 selbst auflösten.
In ihrer ersten Sitzung am 3. April wählten die Stadtverordneten einen neuen Magistrat und veränderten ihre Satzung grundlegend. Die schwerwiegendste Änderung lag darin, dass Sitzungen nur noch nach Bedarf stattfinden sollten, was die Stadtverordnetenversammlung als kommunalpolitischen Akteur marginalisierte. Bis Ende 1933 fanden lediglich sieben weitere Sitzungen statt, der nationalsozialistisch dominierte Magistrat tagte dagegen 29 Mal. Damit wurde der Magistrat zum selbst beschlussfassenden Organ, was seine Kompetenzen deutlich stärkte.
Als folgenschwerste Neuerung des Jahres 1933 muss allerdings das Preußische Gemeindeverfassungsgesetz vom 15. Dezember gelten, das die Auflösung aller kommunalen Selbstverwaltungskörperschaften zum 1. Januar 1934 verfügte. Die Vertretungskörperschaften verloren so ihren Einfluss auf die Willensbildung und das nationalsozialistische Führerprinzip wurde auf kommunaler Ebene dadurch umgesetzt, dass der Oberbürgermeister die alleinige Entscheidungskompetenz in Gemeindeangelegenheiten erhielt. Am Ende sollte eine Verschmelzung der nationalsozialistischen Bewegung mit den Selbstverwaltungskörpern stehen. Als beratende Instanz wurden dem Oberbürgermeister sogenannte Gemeinderäte zur Seite gestellt. 1934 setzte sich dieser Personenkreis jedoch noch aus den alten Stadtverordneten zusammen, ebenso wurden die ehemaligen Magistratsmitglieder als ehrenamtliche Beigeordnete übernommen. Die einzige nennenswerte personelle Veränderung stellte die Ernennung Ernst Schellers zum Oberbürgermeister dar.
Mit der Deutschen Gemeindeordnung wurden im Jahr 1935 schließlich die Regelungen des Preußischen Gemeindeverfassungsgesetzes auf das gesamte Reich übertragen. Hierdurch erlebte die Zusammensetzung der Marburger Stadtleitung grundlegende Veränderungen. Die Zahl der beratenden Gemeinderäte wurde auf 16 Personen festgelegt, wobei diese die soziale Struktur der Stadt widerspiegeln sollten und beispielsweise der ranghöchste SA-Führer ein Amt innehaben musste. Darüber hinaus gab es nur noch drei ehrenamtliche Beigeordnete, namentlich den Prokuristen Wilhelm Dönges, Fabrikinhaber Ludwig Niderehe und Universitätsprofessor Harro Jensen, der 1938 durch den Zahnarzt Dr. Karl Eicker ersetzt wurde. Die Beigeordneten konnten, anders als die Gemeinderäte, Aufgaben des Oberbürgermeisters übernehmen. Der Personenkreis der Gemeinderäte und Beigeordneten verstetigte sich seit 1936 zunehmend, wobei nicht alle Mitglieder der NSDAP angehörten und auch sogenannte alte Kämpfer keine bevorzugte Behandlung erfuhren.
Mit der lokalen Machtübernahme der Nationalsozialisten begann in Marburg sogleich der Straßenterror der SA, welcher sich nicht nur gegen die Arbeiterparteien richtete, sondern von Beginn an auch gegen die jüdische Bevölkerung. Während einer ersten Phase 1933/34 äußerte sich dies vor allem in der Verdrängung der Juden aus dem öffentlichen Leben. Die städtische Leitung war an dieser Stelle aktiv in die Verfolgung politischer und rassischer Gegner involviert, indem sie die pogromartigen Gewaltaktionen der SA nachträglich durch antijüdische Restriktionen legitimierte.
In der zweiten Phase zwischen 1934/35 und Kriegsbeginn konzentrierte sich die Diskriminierungspolitik der städtischen Leitung vor allem auf den Entzug jüdischen Eigentums. Durch die Enteignung und Arisierung sowohl privaten als auch geschäftlichen Besitzes wurde den jüdischen Bürgern nicht nur die Existenzgrundlage entzogen, sondern die Stadt beteiligte sich auch an der Ghettoisierung in den wenigen Judenhäusern. Die drei Deportationswellen von Marburg nach Riga und Theresienstadt kamen ebenso wie die Reichspogromnacht nie öffentlich zur Sprache, woran erneut die Trennung zwischen staatlichen Aufgaben und denen der Parteiorganisationen deutlich wird. In personeller Hinsicht war mit SA-Brigadeführer Fritz Vielstich allerdings ein Marburger Gemeinderat unmittelbar an der Zerstörung der Synagoge in der Universitätsstraße beteiligt.
Mit Kriegsbeginn im September 1939 ergab sich für die Stadtverwaltung ein tiefgreifender Einschnitt durch die Einziehung vieler Gemeinderäte sowie des Oberbürgermeisters Scheller zum Kriegsdienst. Dies hatte zur Folge, dass die gemeindlichen Beratungen nicht nur mit einem sehr kleinen Personenkreis abgehalten wurden, sondern auch immer seltener stattfanden, was der Handlungsfähigkeit der Gemeinde jedoch nicht schadete. Zeitweise waren nur noch die älteren Gemeinderäte wie der Telegrapheninspektor Heinrich Menche, Kaufmann Adolf Salziger, Schmiedemeister Ernst Doering und Universitätsbuchhändler Gottlieb Braun bei den Gemeinderatsbesprechungen zugegen.
Bereits seit Herbst 1939 leitete bedingt durch den Kriegsdienst Ernst Schellers, der Bürgermeister Walter Voß de facto die Gemeindeangelegenheiten. Die Nachricht vom Tod des Oberbürgermeisters auf der Krim im Januar 1942 traf die verbliebenen Amtsträger schwer. Beim Trauerappell der Marburger Stadtverwaltung lobte Walter Voß den gefallenen Oberbürgermeister Ernst Scheller als vorbildlichen Nationalsozialisten und Gemeindeleiter, dessen „makelloses Bild, vom Glorienschein umstrahlt, unvergesslich, unauslöschlich“ sei. Zur Vereinfachung der Verwaltung wurde die Oberbürgermeisterstelle nicht neu besetzt und Walter Voß führte die Amtsgeschäfte der Stadt Marburg als Oberbürgermeister in Vertretung, bevor er im März 1944 zum kommissarischen Oberbürgermeister ernannt wurde. Diese Regelung war von Voß selbst vorgeschlagen worden und in seinem persönlichen Interesse. Während der letzten Kriegsmonate brach die offizielle Kommunikation zwischen den Gemeinderäten und Walter Voß ebenso ab wie der Schriftverkehr des kommissarischen Oberbürgermeisters und die fortgeschrittene Erosion der städtischen Verwaltung erreichte ihren Kulminationspunkt.
Mit dem Einmarsch der US-Streitkräfte in Marburg am 28. März 1945 wurde die Stadt kampflos übergeben, die städtische Leitung unmittelbar aufgelöst und ihre Vertreter interniert. Der Bruch der amerikanischen Besatzungsmacht mit den einstigen NS-Eliten war drastisch und so mussten sich mit Inkraftsetzung des Befreiungsgesetzes auch die Angehörigen der ehemaligen Marburger Stadtleitung vor deutschen Spruchkammern im Entnazifizierungsverfahren verantworten.
Anhand eines 125 Merkmale umfassenden Katalogs sollten alle erwachsenen Deutschen in der US-Zone auf eine Mitwirkung am nationalsozialistischen Unrechtsstaat untersucht und in fünf Kategorien eingeordnet werden. Das dauerhaft überlastete System entwickelte sich in der Folge zu einer von Lutz Niethammer treffend charakterisierten Mitläuferfabrik. Durch Leumundsbekundungen konnten auch stark belastete Angeklagte eine Einstufung als Mitläufer oder Entlastete erwirken.
Im Marburger Kontext möchten wir besonders auf das Verfahren gegen Walter Voß eingehen. Er galt im Sinne des Befreiungsgesetzes als entlastet, obwohl er 1933 Mitglied der NSDAP geworden und in der Folge der Machtübernahme für die Verfolgung der Marburger Arbeiterparteien verantwortlich gewesen war. Zusätzlich war Voß förderndes Mitglied der SS sowie des NS-Fliegerkorps gewesen und wurde mit Beginn des Zweiten Weltkriegs unabkömmlich gestellt. In der Folge wurde mit dem Kriegsverdienstkreuz II. Klasse ausgezeichnet. 1939 hatten die Nationalsozialisten ihn erneut für zwölf Jahre in seinem Amt als Bürgermeister bestätigt. Mit dem Kriegsdienst Schellers wurde er zudem Kreisamtsleiter für Kommunalpolitik der NSDAP in Marburg. Nach dem Tod des Oberbürgermeisters 1942 wurde kein bewährter Nationalsozialist als neuer OB eingesetzt, was ein deutlicher Indikator für das in Walter Voß gesetzte Vertrauen der NS-Führung war. Gerade zu Beginn der NS-Herrschaft hat er seine Person und Position als Bürgermeister in eine günstige Stellung gebracht und während der gesamten zwölf Jahre zur Durchsetzung und zum Funktionieren des NS-Regimes, einschließlich seiner Verfolgungs- und Gewaltpolitik beigetragen. Seine Entlastung vor der Spruchkammer resultierte schließlich aus seinem angeblichen Einsatz für die kampflose Übergabe der Stadt an die Amerikaner sowie seiner Verdrängung aus dem Sparkassenvorstand 1938, wodurch er finanzielle Nachteile erlitten hatte.
Weder Walter Voß noch irgendeinem anderen Mitglied der nationalsozialistischen Führungselite der Stadt Marburg gelang nach 1945 eine Rückkehr in die neuen demokratischen Selbstverwaltungskörperschaften. Nichtsdestoweniger waren unter den neuen, demokratisch gewählten Stadtverordneten und Magistratsmitgliedern andere NS-Belastete. Wer diese Personen waren, wie stark ihre Belastung ausfiel und in welcher Zahl sie in den beiden städtischen Gremien vertreten waren; das sind die Kernfragen des zweiten Teils unseres Vortrags. Dieser fasst die Ergebnisse der zweiten von uns erarbeiteten Studie zusammen. Diese in der Nachkriegszeit zwischen 1945 und 1989 angesiedelte Forschung wurde dabei in einer eigenständigen Studie bearbeitet. Im Gegensatz zur eben vorgestellten ersten Studie liegt hier der Schwerpunkt auf der Analyse und Beleuchtung individueller Lebenswege sowie der statistischen Auswertung der NS-Belastung der Marburger Stadtverordneten und Magistratsmitglieder.
Bei diesen statistischen Auswertungen wurden die Mitgliedschaften in der NSDAP sowie in den NS-Kampfverbänden, also der SA, SS und dem NS-Kraftfahrkorps, untersucht. Angesichts der herausragenden Rolle, welche diese Organisationen beim Aufstieg und der Konsolidierung des NS-Regimes gespielt haben, erschien eine Akzentuierung auf diese NS-Verbände notwendig. Hinzu kommt die Beteiligung an der Gewaltherrschaft des Dritten Reichs, insbesondere an der Verfolgung politischer und rassischer Feinde bis hin zu deren Vernichtung in den von der SS betriebenen Konzentrationslagern. Aufgrund dieser Fokussierung wurde eine statistische Auswertung weiterer NS-Organisationen, wie beispielsweise der berufsständischen Verbände, nicht vorgenommen. Gleichwohl spielen diese selbstverständlich eine wichtige Rolle bei der Erfassung einer individuellen NS-Belastung, wie wir sie später noch vorstellen werden.
Die erarbeiteten Statistiken betrachten dabei die Stadtverordnetenversammlung und den Magistrat getrennt voneinander. Die Grundlage der statistischen Auswertungen für die Stadtverordnetenversammlung bildete eine Untersuchungsgruppe von insgesamt 176 Personen, die aufgrund ihres Geburtsdatums bis 1928 für eine Mitgliedschaft in den bereits erwähnten Organisationen infrage kamen. Im Zeitraum zwischen 1946 und 1989 zählte das Stadtparlament 54 ehemalige NSDAP-Mitglieder, von denen sechs der Partei vor der Machtergreifung beigetreten waren und einer sogar als „alter Kämpfer“ galt. Als solche wurden frühe NSDAP-Mitglieder mit einer Mitgliedsnummer unter 300.000 bezeichnet.
Diese 54 Personen entsprechen einem Wert von 30,6 Prozent, das heißt fast jeder Dritte der bis 1928 geborenen Stadtverordneten war nationalsozialistischer Parteigenosse gewesen. Dieser Wert liegt deutlich über den Anteilen in den bislang primär untersuchten Landesparlamenten, insbesondere der Länder Hessen, Niedersachsen, Bremen und dem Saarland. Einzig Schleswig-Holstein erzielte einen noch höheren Wert als Marburg und gilt damit als absoluter Ausreißer.
Die Mehrzahl der ehemaligen NSDAP-Mitglieder war in den beiden Volksparteien SPD und CDU zu finden, wobei dies lediglich die absoluten Zahlen widerspiegelt. In prozentualen Anteilen ergibt sich jedoch ein divergentes Bild. Hier erreichten der Bund der Heimatvertriebenen und die Überparteiliche Wählergemeinschaft mit je 75 Prozent – der bis 1928 geborenen – die Spitzenwerte. Es folgte der Wahlblock Marburg, welcher als Abspaltung des rechten Flügels der FDP einen Wert von 55,5 Prozent ehemaliger NSDAP-Mitglieder erreichte. Von den großen Parteien erreichte die CDU einen Wert von 34,8 Prozent und die SPD 29 Prozent. Die LDP bzw. FDP zählte immerhin noch 23 Prozent ehemaliger NSDAP-Mitglieder in ihren Fraktionsreihen.
Im Vergleich zu den Befunden für andere bislang untersuchte Parlamente zeigen die Marburger Parteien abweichende Ergebnisse auf. Leider ist es uns bislang nur möglich, Vergleiche zu den Länderparlamenten zu ziehen, was zweifelsohne nicht unproblematisch ist. Im Vergleich zum Hessischen Landtag fanden sich beispielsweise in der Marburger FDP-Fraktion weit weniger ehemalige NSDAP-Mitglieder als in der Hessen-FDP. Die beiden Volksparteien CDU und SPD erreichten hingegen deutlich höhere Werte als ihre Schwesterfraktionen im Hessischen Landtag. So lagen die Marburger Christdemokraten knapp zwölf Prozent über den Ergebnissen der Hessen-CDU und die SPD zählte fast dreimal so viele ehemalige NSDAP-Mitglieder, verglichen mit dem Hessischen Landtag.
Während diese Ergebnisse von den uns bekannten Vergleichswerten teilweise deutlich abweichen, reiht sich die Verteilung der ehemaligen NSDAP-Mitglieder in den einzelnen Wahlperioden in den Forschungstrend ein. So kann ein sprunghafter Anstieg der Anzahl der einstigen Parteigenossen zwischen 1948 und 1952 beobachtet werden. Dieser ist vor allem durch das Ende der Entnazifizierung und ein steigendes Desinteresse der deutschen Bevölkerung an einer Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit zu erklären. Anschließend stieg der Anteil der ehemaligen NSDAP-Mitglieder kontinuierlich und erreichte seinen Höhepunkt in der Wahlperiode 1960 bis 1964. In dieser Zeit hatten 35,5 Prozent der Stadtverordnetenversammlung im Dritten Reich der nationalsozialistischen Partei angehört, was einer Anzahl von 17 Abgeordneten entsprach. Nach diesem Spitzenwert sank in den folgen Wahlperioden die Anzahl der einstigen NSDAP-Mitglieder auf etwa 3,5 Prozent im Jahr 1977. In den gesamten Achtzigerjahren waren keine NSDAP-Mitglieder mehr unter den Parlamentariern vertreten.
Für den Magistrat ergibt sich ein leicht von den Entwicklungen der Stadtverordnetenversammlung abweichendes Bild. Hier schwankte der Anteil ehemaliger NSDAP-Mitglieder deutlich stärker und wies nur zwischen 1946 und 1956 einen kontinuierlichen Anstieg auf.
Die meisten Personen mit NSDAP-Vergangenheit, nämlich fünf, saßen folglich in der Wahlperiode IV zwischen 1956 und 1960 im Magistrat. In der Folge schwankte dieser Anteil stark, jedoch war auch hier in den Achtzigerjahren kein ehemaliges NSDAP-Mitglied mehr Teil des Magistrats. In vier Fällen waren hauptamtliche Magistratsmitglieder während des Dritten Reichs Mitglieder der nationalsozialistischen Partei gewesen, namentlich Oberbürgermeister Karl Theodor Bleek und Ernst Bolz von der FDP, Dr. Georg Zellmer von der CDU sowie Hans Ballmaier von der Vereinigung unabhängiger Bürger. Analog zur Verteilung in der Stadtverordnetenversammlung kamen in absoluten Zahlen auch im Magistrat die meisten ehemaligen NSDAP-Mitglieder aus der SPD, dicht gefolgt von der CDU und der FDP sowie dem Wahlblock Marburg. In prozentualen Anteilen gesprochen lagen die Werte der drei großen Parteien SPD, CDU und FDP stets leicht unter dem der Stadtverordnetenversammlung.
Betrachtet man nun die Mitgliedschaften in den NS-Kampfverbänden, also der SA, SS und dem NS-Kraftfahrkorps (kurz NSKK), so ergibt sich, dass hier zwölf Personen eine Zugehörigkeit nachgewiesen werden konnte. Elf von ihnen saßen in der Stadtverordnetenversammlung und, in entsprechender personeller Überschneidung, drei im Magistrat. Acht Mal konnte eine Mitgliedschaft in der SS nachgewiesen werden, fünf Mal in der SA, zwei Mal in der Waffen-SS und ein Mal im NSKK. Entsprechend waren einige Personen Mitglieder in mehreren dieser Organisationen.
Die hier ermittelten Mitgliedschaften zeigen zudem auf, dass der vergleichsweise geringe Anteil ehemaliger Kampfverbandsmitglieder durchaus dem Durchschnitt entspricht. Lediglich die deutlich geringe Anzahl einstiger SA-Mitglieder verwundert auf den ersten Blick. Betrachtet man die Vergleichsstudien beispielsweise zu den Landtagen, so waren in der Marburger Stadtverordnetenversammlung und im Magistrat wesentlich weniger einstige SA-Mitglieder vertreten. Es scheint dabei jedoch so, dass dies ein Spezifikum der lokalen Untersuchungsgruppe ist. Von der Mehrzahl der Personen waren nur sehr wenige persönliche Daten überliefert, sodass nicht ausgeschlossen werden kann, dass einige SA-Mitgliedschaften unbemerkt blieben. Dies ist im Übrigen ein Problem, das sich bereits bei der Studie zum Kreistag Marburg-Biedenkopf in ähnlicher Weise ergab.
Die gerade präsentierten statistischen Auswertungen geben uns im Fragekomplex der „NS-Belastung“ jedoch nur eine sehr statische und plakative Vorstellung. Sie sagen uns nichts über individuelle Ausformungen von NS-Belastung. Hierzu bedarf es einer tiefergehenden Betrachtung, die im nun folgenden Teil vorgenommen werden soll.
Betrachtet man den Begriff der NS-Belastung, so ergibt sich, dass er in den vergangenen siebzig Jahren mit verschiedenen Vorstellungen besetzt war. Nach einer Phase der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus durch die Entnazifizierung und Kriegsverbrecherprozesse, folgte in den Fünfzigerjahren eine Abwendung von diesen Praktiken, vor allem von der juristischen Aufarbeitung. Zwar blieb der Nationalsozialismus als öffentlich diskutierte Thematik präsent, die Frage nach einer persönlichen Mitwirkung jedes Einzelnen am NS-System wurde allerdings breit beschwiegen. Erst in den Sechzigerjahren flammte durch große NS-Prozesse ein neues Interesse an der juristischen Ahndung auf. Im Mittelpunkt standen vor allem „Auschwitz“ und der Holocaust, was auch bedingte, dass NS-Belastung primär als Mitwirkung an diesen Verbrechenskomplexen verstanden wurde. Seit den 1980er Jahren richtete sich der Fokus dann verstärkt auf eine Mitwirkung am NS-System jenseits von „großen Namen und großen Verbrechen“. Heute fließen beide Bereiche von NS-Belastung – also die juristische Verantwortung für Verbrechen und die Beteiligung am NS-System abseits dieser klar vom Strafrecht zu ahndenden Bereiche – in unsere Betrachtungen mit ein. Es werden also zum einen formale Mitgliedschaften in NS-Organisationen erfasst sowie der Frage nachgegangen, in welcher Funktion jemand dort tätig war. Als weiteren Fixpunkt ergibt sich die Erforschung persönlichen Handelns und Verhaltens, sofern dies aus den Quellen ersichtlich wird. Dieses die Lebenswirklichkeit des Nationalsozialismus breit erfassende Modell bildet insgesamt die individuelle NS-Belastung ab.
Aus dem Marburger Kontext wollen wir Ihnen nun ausgewählte Biographien vor dem Hintergrund einer individuellen NS-Belastung vorstellen. Wir möchten dabei mit Oberbürgermeister Karl-Theodor Bleek beginnen, um den es in den vergangenen Wochen, auch in der Stadtverordnetenversammlung, zu erneuten Diskussionen gekommen ist.
Karl Theodor Bleek wurde 1898 in Kirn im Landkreis Bad Kreuznach geboren und starb 1969 in Marburg. Nach einem Studium der Rechtswissenschaften an der Universität Marburg startete Bleek eine juristische Karriere im Staatsdienst. So wurde er 1932 zum Landrat in Arnswalde bestellt, ein Amt aus dem ihn die Nationalsozialisten 1933 entließen. Grund hierfür war seine Mitgliedschaft in der Deutschen Demokratischen Partei, kurz DDP. Anschließend war Bleek jedoch nicht von Arbeitslosigkeit betroffen, sondern fand weitere Verwendung im niedrigeren Staatsdienst. Nichtsdestoweniger konnte er das Vertrauen der NSDAP zunächst nicht gewinnen. Im Jahr 1937 kam Karl Theodor Bleek nach Breslau, wo er bis 1945 in verschiedenen Ämtern tätig war. So war er zunächst Kommunaldezernent und seit 1940 Stadtkämmerer der Stadt Breslau. Am 1. Januar 1942 erfolgte schließlich, vergleichsweise spät, sein Beitritt zur NSDAP. Nach dem Zweiten Weltkrieg war er zunächst in den Außenstellen der Breslauer Stadtverwaltung tätig, bevor er noch 1945 nach Marburg kam.
Hier war er Vorsitzender und Mitbegründer der LDP und von 1946 bis 1951 Oberbürgermeister. Zusätzlich gehörte Bleek dem Hessischen Landtag an und leitete nach seinem Weggang aus Marburg bis 1961 das Bundespräsidialamt in Bonn. In Marburg steht Bleek seit Jahren wegen seines Spruchkammerverfahrens in der Kritik. Hier hatte er seine NSDAP-Mitgliedschaft bewusst verschwiegen, ein Umstand, der seine politische Karriere in der jungen Bundesrepublik ermöglichte. Diese Tatsache ist der Forschung spätestens seit 1996 bekannt. Das Entnazifizierungsverfahren gegen Bleek im Jahr 1946 regte ein breites öffentliches Interesse an, ging es doch um die Wahl des ersten demokratischen Oberbürgermeisters der Nachkriegszeit. Wäre er von der Spruchkammer nicht als entlastet eingestuft worden, so hätte er auch nicht gewählt werden können. Nach einem aufsehenerregenden mündlichen Verfahren wurde Bleek schließlich von der Kammer entlastet. Seine NSDAP-Mitgliedschaft wurde aufgrund des Verschweigens nicht thematisiert. Aus heutiger Perspektive können wir feststellen, dass sich Karl Theodor Bleek durch das Verschweigen seiner NSDAP-Mitgliedschaft einen entscheidenden Vorteil schuf und darauf seine politische Karriere aufbaute. Die Parteimitgliedschaft an sich muss jedoch im Kontext des Dritten Reichs und nicht der Nachkriegszeit betrachtet werden.
Demnach ergibt sich ein Bild, das Bleek vor allem als kompromissfähigen Beamten zeigt, der gewillt war mit dem NS zusammenzuarbeiten und wohl aus Opportunismus und wegen besserer Karrierechancen der NSDAP beitrat. Zu seiner Tätigkeit in Breslau und einer möglichen, immer wieder bis heute diskutierten, Beteiligung Bleeks an Verbrechen gibt es bislang keinerlei Aktenmaterial. Auch eine erste Vorrecherche in den Beständen des Breslauer Staatsarchivs ergab keine Hinweise hierfür. Es bedarf aber sicherlich einer weiterführenden Auseinandersetzung mit dieser Fragestellung.
Um Ihnen die Komplexität einer persönlichen NS-Belastung und die vielen Graustufen, die es in diesem Bereich gibt, veranschaulichen zu können, möchten wir nun kurz auf den Stadtverordneten Gustav Rohr eingehen. Rohr wurde 1898 in Marburg geboren. Seit 1921 war er als Gewerkschaftler sowie innerhalb der Arbeiterwohlfahrt tätig und gleichzeitig Mitglied der SPD und der SPD-nahen Eisernen Front. Nach der Machtergreifung 1933 wurde er auf Grundlage des Berufsbeamtengesetzes aus politischen Gründen aus seinem Dienst bei der Universitätskasse Marburg entlassen. Im Sommer 1933 befand er sich für ca. einen Monat in Schutzhaft und war bis 1938 arbeitslos. Um sich wohl vor weiteren Übergriffen der Nationalsozialisten zu schützen wurde er zwischen 1933 und 1934 förderndes Mitglied der SS. In den folgenden Jahren versuchte er, sich an das nationalsozialistische Regime anzunähern und wurde zunächst 1935 Mitglied der Deutschen Arbeitsfront und der NS-Volkswohlfahrt.
Dort hatte er seit 1938 eine Stellung als Blockwart inne. Gleichzeitig war Gustav Rohr stellvertretender Sportpressewart im NS Reichsbund für Leibesübungen. Im Zuge dieser Annäherung an die Nationalsozialisten fand er 1938 eine neue Anstellung und wurde am 1. Juli 1940 in die NSDAP aufgenommen. Nach dem Zweiten Weltkrieg war er in den Fünfzigern Stadtverordneter für die SPD. Seine Biographie zeigt, wie sich die politische Positionierung mancher Menschen aus verschiedensten Gründen während der zwölf Jahre NS-Diktatur verändern konnte. In vielen Einzelfällen lassen sich die Jahre zwischen 1933 und 1945 eben nicht auf ein abschließendes Urteil eindampfen, sondern weisen scheinbare Widersprüche auf, die jedoch nebeneinander existieren konnten. So war es möglich, dass manche Menschen beides waren: NS-Verfolgte und Funktionäre des Regimes.
Im Marburger Forschungskontext konnten jedoch auch Personen ermittelt werden, deren Lebensweg eine deutliche NS-Belastung aufwies. So verhielt es sich beispielsweise bei dem Marburger Stadtrat Hans Ballmaier von der Vereinigung unabhängiger Bürger. Er wurde 1909 in Neuhof im Landkreis Fulda geboren und starb 1958 in Marburg. Ballmaier studierte Rechtswissenschaften in Marburg und München und war anschließend seit 1934 als Rechtsberater für die Deutsche Arbeitsfront tätig. Bereits 1932 war er sowohl der NSDAP als auch der SS beigetreten. Bis Herbst 1936 war er dann beim Geheimen Staatspolizeiamt in Berlin tätig, wobei nichts über seinen näheren Aufgabenbereich bekannt ist.
Anschließend wechselte Ballmaier zum Stab des Stellvertreters des Führers Rudolf Heß in die Parteizentrale nach München. Gleichzeitig gehörte er der Einheit „Stab Reichsführer-SS“ und dem Sicherheitsdienst der SS an. 1940 wechselte er zur Zivilverwaltung im besetzten Luxemburg, wo Ballmaier Verwaltungskommissar in Diekirch wurde. Im Juli 1942 wurde er zum Landrat in Koblenz ernannt und wenig später zur Wehrmacht eingezogen. Ballmaier blieb bis Kriegsende sowohl Landrat als auch Frontsoldat, zuletzt im Rang eines Unteroffiziers. Nach dem Zweiten Weltkrieg kam er in Kriegsgefangenschaft und bis 1948 wurde in Luxemburg gegen ihn wegen des Verdachts der Beteiligung an Kriegsverbrechen ermittelt. Ballmaier wurde jedoch wegen mangelndem Tatverdacht aus der Haft entlassen. Das folgende Spruchkammerverfahren zog sich stark in die Länge und wurde letztlich 1950 eingestellt. Zwischen 1952 und 1958 war er Stadtrat in Marburg. Hans Ballmaiers NS-Belastung zeigt sich anhand seiner zahlreichen Tätigkeiten innerhalb des NS-Regimes, insbesondere in hohen Verwaltungspositionen sowie als Mitglied der SS und seinen Tätigkeit im SD und dem Geheimen Staatspolizeiamt.
Ebenso wie Ballmaier hatte der CDU-Stadtverordnete Bodo Schaub hohe Ämter im NS-System wahrgenommen. Der 1899 in Münster geborene Schaub gehörte nach dem Ersten Weltkrieg einem paramilitärischem Freikorps an. Anschließend wechselte Schaub zur Preußischen Schutzpolizei in Berlin, wo er bis 1934 tätig war. Seit 1933 war er Mitglied der NSDAP und ein Jahr später auch der SA. Nach seinem freiwilligen Ausscheiden aus dem Polizeidienst war Schaub in der Propagandaabteilung des Reichskriegerbundes, vormals Kyffhäuserbund, tätig. Mit Beginn des Zweiten Weltkrieges kam er erneut zur Schutzpolizei und nahm am Polenfeldzug teil. Nach seinem Eintritt in die SS im Jahr 1940 wurde er ein Jahr später in die Waffen-SS übernommen und stieg dort zum Stellvertretenden Kommandanten der Standortkommandantur der Waffen-SS in Wien auf. Seit 1943 war er in derselben Stellung in Berlin tätig und stieg bis zum SS-Standartenführer auf. Bodo Schaub kann als später Aufsteiger innerhalb der SS und Waffen-SS gelten. Formal war er nicht nur Angehöriger der NSDAP, sondern auch mehrerer der Partei angeschlossener Verbände und der Politischen Polizei. Innerhalb des NS-Systems nahm er hohe Positionen wahr und verhielt sich nicht nur systemkonform, sondern zeigte spätestens durch seinen Beitritt zur SS eine aktivistische Beteiligung am Nationalsozialismus.
Als abschließendes Beispiel möchten wir Ihnen nun den Militärrichter und langjährigen Stadtverordneten sowie Magistratsmitglied, Dr. Friedrich Frohwein vorstellen. Frohwein wurde 1898 in Ebsdorf geboren. Von 1916 bis 1918 nahm er am Ersten Weltkrieg teil und studierte anschließend Rechtswissenschaften in Marburg. Bis zu dessen Auflösung im Jahr 1934 war er Mitglied im Stahlhelm. Ab 1930 war er Amts- und Landgerichtsrat in Kassel. Dort war er unter anderem Hilfsrichter im Zivilsenat und zwischen 1936 und 1937 ebenfalls Hilfsrichter im Strafsenat. In seinem Personalbogen aus der Nachkriegszeit beim Hessischen Staatsministerium wurde diese Tätigkeit von ihm nicht angegeben. Es kann jedoch nachgewiesen werden, dass er in diesem Zeitraum an Verfahren gegen 75 Beschuldigte, zumeist Kommunisten, mitwirkte. Die Angeklagten wurden aus politischen Gründen zu Strafen zwischen neun Monaten Gefängnis und acht Jahren Zuchthaus verurteilt. An dieser Stelle beteiligte sich Frohwein an der juristischen Verfolgung politischer Gegner des Nationalsozialismus. In der Nachkriegszeit gab er dann an, aufgrund von politischen Motiven Ende 1937 als Richter zur Luftwaffe gewechselt zu sein.
Hierfür machte er insbesondere Drohungen vonseiten des späteren Präsidenten des Volksgerichtshofes, Roland Freisler, gegen ihn verantwortlich. Diese Drohungen erwiesen sich bei näherer Erforschung jedoch als sehr vage und unwahrscheinlich. Stattdessen liegt es nahe, dass er aufgrund eines ausgeprägten Militarismus eine Karriere bei der Luftwaffe anstrebte. Mit seinem endgültigen Wechsel zu den Streitkräften im Jahr 1938 wurde Frohwein nun auch Mitglied der NSDAP. Innerhalb der Luftwaffe stieg er in den Rang eines Oberstrichters auf und gab in der Nachkriegszeit an, für sechs oder sieben Todesurteile verantwortlich gewesen zu sein. Zu seiner Tätigkeit als Luftwaffenrichter gibt es bedauerlicher Weise keine schriftlichen Quellen, sondern ausschließlich eigene Aussagen Frohweins. Im Mai 1945 geriet er in Kriegsgefangenschaft und wurde anschließend im September Hilfsanwalt im Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozess. Dort arbeitete er eng mit dem Marburger Militärexperten und späteren Stadtverordneten Erich Schwinge zusammen. In den sogenannten Nürnberger Nachfolgeprozessen übernahm Frohwein im Fall 12, dem OKW-Prozess, die Verteidigung des Generaloberst Georg Hans Reinhardt. In seiner Funktion als Anwalt in vielen Nachkriegsprozessen war Friedrich Frohwein aktiv an der Zeichnung eines verharmlosenden Bildes der „sauberen Wehrmacht“ beteiligt. Zwar darf die Tätigkeit Frohweins als Verteidiger in Kriegsverbrecherprozessen nicht mit einer NS-Belastung verwechselt werden, dennoch nutzte er seinen Freiraum als Anwalt, um ein apologetisch-entlastendes Geschichtsbild zu entwerfen. Bis weit in die Nachkriegszeit fiel Frohwein als herausragende Figur des rechtskonservativen Spektrums in der Marburger Stadtpolitik auf. Dies wird auch durch die Erinnerungen des FPD-Stadtverordneten Hansjochen Kochheim deutlich, in denen er die Wahl Frohweins in den Magistrat 1960 beschreibt: „Die SPD, insbesondere Oberbürgermeister Gaßmann, war nicht so sehr über den Verlust eines ehrenamtlichen Magistratssitzes bestürzt und verärgert, als vielmehr darüber, dass die FDP sich dazu hergegeben hatte, dem Spitzenkandidaten des Wahlblocks, Dr. Frohwein, Sitz und Stimme im Magistrat zu verschaffen. Nicht nur bei Gaßmann, sondern auch bei anderen Mitgliedern seiner Fraktion war dieser Name mit Ressentiments, unter anderem auch aus der Zeit des Dritten Reiches verbunden.“
Die gerade vorgestellten Biographien, mit ihren unterschiedlichen Aspekten von NS-Belastung, haben uns vor Augen geführt, wie wichtig eine differenzierte Betrachtung dieses Forschungsfeldes ist. Jeder Einzelne muss dabei auf seine individuelle Beteiligung am NS-System hin untersucht werden; die Ergebnisse bedürfen einer kritischen Einordnung. Dabei zeigt sich oftmals, dass viele Lebenswege nicht in ein Schwarz-Weiß-Schema passen; dieses würde der Lebenswirklichkeit im Nationalsozialismus nicht gerecht werden und ein stark überformtes Bild des Dritten Reichs zeichnen. Durch eine differenzierte Betrachtung treten die vielen Schattierungen und Graustufen zutage, von denen einige Personen heller und andere dunkler erscheinen. Wir dürfen jedoch nicht bei einer reinen Auswertung von NS-Belastung stehenbleiben, sondern müssen uns die Frage stellen, wie sich unter Umständen diese Belastung in der Nachkriegszeit auswirkte. Unsere Forschungen haben hierzu einen ersten Grundstein geliefert, von dem aus weitere historische Fragestellungen ausgehen können und sollten.
Wir sind somit am Ende unseres Vortrags angelangt und bedanken uns für Ihre Aufmerksamkeit.“