Golden waren die 1920er-Jahre – nach der Verarbeitung des Elends des Ersten Weltkriegs. Mit dem rasanten Aufschwung von Wirtschaft, Kunst und Wissenschaft, mit Radio und Kino, Kurt Tucholsky und Erich Kästner, mit Bauhaus und neuem Frauenbild. Ein Jahrzehnt der Innovation und des Fortschritts auf fast allen Gebieten. Plötzlich, 1929, mit Börsenkrach und Weltwirtschaftskrise, ist alles vorbei, erinnerte Oberbürgermeister Spies an die Geschichte vor einem Jahrhundert. Unzureichende und überforderte Sozialsysteme, Massenarbeitslosigkeit und Massenelend bereiteten einen ganz anderen Boden,
In Marburg war da der Anteil der Rechtsradikalen außergewöhnlich hoch: Bereits 1930 war die NSDAP stärkste Kraft, erreichte zwei Jahre später 53 Prozent der Stimmen. Nun, 100 Jahre später, stehen Deutschland und Europa wieder in einem solchen Spannungsfeld aus kulturellem Aufbruch und dem Erstarken von rechtsextremen Gedankengut. „Sie sind schon wieder da, die Kulturlosen, die Geschichtsvergessenen. Wir können die Augen nicht verschließen vor rechtsextremistischen Worten und rechtsterroristischen Taten“, sagte OB Spies. Er sei dankbar, dass Marburg eine klare Haltung habe und es hier nicht gelinge, einen Keil in die Reigen der Demokrat*innen zu treiben. Versucht werde dies zum Beispiel von jenen, die monierten, dass der OB sich zum Antifaschismus bekennt. „Antifaschisten, das sind alle, die sich gegen eine Wiederkehr des Faschismus wenden. Antifaschismus ist Teil meines Diensteides auf Grundgesetz und Verfassung!“, betonte Spies unter lautem Applaus der Gäste im vollen Saal. Niemals sollte zugelassen werden, dass Rechtsradikale und Neofaschisten definieren wollten, wer in dieser Gesellschaft die Guten und die Bösen seien.
© Georg Kronenberg, i.A.d. Stadt Marburg
Wie kann es gelingen, dass wir die 2020er-Jahre besser gestalten? „Wir müssen nicht nur mehr Demokratie wagen, sondern auch mehr Demokratie machen!“, rief das Stadtoberhaupt auf. Ein wichtiger Baustein sei der Dialog, mehr und offenere Gespräche miteinander, „gemeinsames entdecken und Unterschiede akzeptieren – immer mit Respekt“, so der Oberbürgermeister. Daran knüpfe auch das Konzept „Dialog und Vielfalt – gegen Rechtsextremismus und Rassismus“ an. Das Konzept legt OB Spies der Stadtverordnetenversammlung im Januar vor. Überhaupt sollten alle viel mehr miteinander reden, nach dem Warum fragen, Übereinstimmungen suchen. „Das Mitmachen, das Mitreden ist in Marburg tief in der DNA der Stadtgesellschaft verwurzelt“, freute sich der Rathauschef. Mit dem Beteiligungsbeirat, der Vorhabenliste, der Beteiligung zum Wohnen im Westen und vielem mehr sei es gelungen, die Bürger*innenbeteiligung in Marburg neu zu gestalten – gemeinsam. „Wenn alle mitreden können, wenn alle wissen, dass sie gehört werden, ist das gelebte Demokratie.“
Ein zweiter wichtiger Baustein, damit die neuen 20er-Jahre besser enden: Soziale Sicherheit – „sichere, vertrauenswürdige, Zuversicht gebende Lebensbedingungen hier vor Ort“, fasste Spies zusammen. Kluge Lösungen müsse die Stadt, müsse die Stadtgesellschaft für vielfältige Herausforderungen gemeinsam finden. Dazu gehöre das Thema Klimaschutz, das die Stadt in diesen 20er-Jahren beschäftigten werde. Denn: 2030 will Marburg klimaneutral sein. Das könne nur gelingen, wenn man keine Schuldvorwürfe mache, sondern Menschen zusammenführe und Lösungen suche. „Und in einer Stadt der Mutigen kriegen wir jedes Problem gelöst“, so der OB. Bürger*innen und die Verwaltung hätten bereits viele gute Ideen dazu zusammengetragen. Das führe aber auch zu dem Thema Mobilität: In den 1920er-Jahren gab es auch eine Verkehrswende – Verbrennungsmotoren verdrängten Eisen- und Straßenbahnen. Nun gehe es um die Verkehrswende für menschengerechte Stadträume, in der das Oberzentrum erreichbar sei, etwa für die 30.000 Einpendler*innen, die Mitarbeiter*innen in Handel, Gewerbe, Arztpraxen, an der Uni und in der Stadtverwaltung. „Die Mobilität betrifft das ganze Umland mit. Deshalb müssen wir neu, größer, anders denken“, so der OB.
© Georg Kronenberg, i.A.d. Stadt Marburg
Bezahlbarer Wohnraum, eine nachhaltige Mobilität, eine funktionierende Wirtschaft, gute Arbeitsplätze sind weitere zentrale Herausforderungen. Seit dem vergangenen Jahr arbeitet die Stadt gemeinsam mit den Akteur*innen vor Ort zudem daran, ein Entwicklungskonzept für die Oberstadt zu erstellen.
So vielfältig und bunt wie Marburg selbst war auch die Gästeschar: Hunderte Vertreter*innen aus der vielfältigen Marburger Vereinslandschaft, aus Politik, Kultur und Stadtgesellschaft, Universität, Wirtschaft und Gewerbe, Verbänden, Initiativen und Beiräten, Kirchen und Religionsgemeinschaften, Wohlfahrt und sozialen Einrichtungen, Bundeswehr, Verwaltung und Medien waren der Einladung der Universitätsstadt Marburg gefolgt. Aus der Stadtverwaltung nahmen in diesem Jahr die Mitarbeiter*innen vom Referat für Stadt-, Regional- und Wirtschaftsentwicklung und vom Fachdienst Soziale Leistungen teil.
© Georg Kronenberg, i.A.d. Stadt Marburg
Unter dem Applaus dieser Gästeschar läutete OB Spies dann auch den Countdown für das Jubiläumsjahr 2022 ein. Denn: Am 28. März 1222 wird Marburg das erste Mal als Stadt urkundlich erwähnt. 800 Jahre Stadt feiert die Universitätsstadt im Jahr 2022. Und vom Abend des Neujahrsempfangs bis zum offiziellen Auftakt des Jubiläumsjahres am 28. März 2022 waren es noch exakt 800 Tage. Mit einem kräftigen Druck auf einen roten Buzzer ließ Spies den Saal des Erwin-Piscator-Hauses mit strahlender 800 aufleuchten, auf der großen elektronischen Anzeigetafel vor dem Gebäude begann der Countdown, der nun über zwei Jahre dort zu sehen ist – und im Saal ein Videoclip, das Lust auf „Marburg800“ macht und alle interessierten Marburger*innen zum Mitmachen und Mitgestalten des Jubiläums aufruft.
© Simone Schwalm, Stadt Marburg
Kultur spielte nicht nur in den 1920er-Jahren eine große Rolle, sondern auch beim Neujahrsempfang 2020 der Stadt Marburg: Nachdem die Schüler*innen der Mosaikschule in einer Videobotschaft verkündet haben, dass das Programm startet, sorgte Leon Kettner am Klavier für die musikalische Begrüßung. Er begeisterte mit „Un Sospiro“ von Franz Liszt und „Von fremden Ländern und Menschen“ von Robert Schumann. Das Hessische Landestheater Marburg unterbrach die Rede des Oberbürgermeisters mit einem Einblick in das neue Stück „Ab jetzt zusammen“, das im Februar Premiere feiert. Die Komödie mit Musik spielt in Großbritannien 1984, als die Regierung droht, tausende Stellen der Bergarbeiter abzubauen. Ein Stück über Zugehörigkeit und Unzugehörigkeit, Annäherung und Solidarität. Zum Abschluss des offiziellen Teils lud das Stadtoberhaupt die Gäste des Neujahrsempfangs ein, den Abend im Haus der Stadtgesellschaft weiterhin zu genießen, ins Gespräch zu kommen und neue Bekanntschaften zu knüpfen. Die „Jazzrobots“ begleiteten diesen Teil des Abends musikalisch.
Mehr erfahren Sie unter www.marburg.de/MR800
Die komplette Rede von Oberbürgermeister Dr. Thomas Spies zum Neujahrsempfang finden Sie hier.












































































