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Luther in Marburg
© Universitätsstadt MarburgAuf den Spuren Martin Luthers durch Marburg steigt man steil hinauf von der Weidenhäuser Brücke ganz unten bis zum Landgrafenschloss ganz oben: Pausieren empfiehlt sich - und lohnt sich! Auf der Spur seiner persönlichen Anwesenheit von Donnerstag, 30. September, bis Dienstag, 5. Oktober 1529, sehen wir die weitgehend originalen Schauplätze jener fünfeinhalb Tage. Aber wir registrieren auch die durch ihn schon vorher und noch nachher bewirkten Umwälzungen, die Marburg bis heute prägen.
An der Ecke Lahntor/Hirschgraben (1) sehen und hören wir morgens am Donnerstag, 30. September 1529, zwei Kursächsische Reisekutschen, geschützt und geehrt durch 40 hessische Reiter, durchs Lahntor einfahren. Es geht die Reitgasse hinan zum Markt, begeistert empfangen von den Bürgern. In der freudig neugierigen Menge begleiten wir ihn auf dem Holperpflaster der engen Gassen zwischen den heute wie damals dichtgestellt aufragenden Häusern aus schwarzen Balken und weißen Lehmgefachen auf ihren Buntsandsteinsockeln.
Wir sehen gleich rechts Kirche (14. Jahrhundert) und Kloster (Ende des 19. Jahrhunderts neugotisch ersetzt) der Dominikaner (2) sich aus dem Lahntal erheben als steinerne Südostecke der Stadt. Schon 1527 hatte Luthers Lehre ihre Umnutzung zur ersten protestantischen Universität durch Landgraf Philipp von Hessen bewirkt. Der angrenzende Friedhof - 1543 der Stadt als Kornmarkt geschenkt (3) - eröffnet über die Stadtmauer hinaus den Blick auf die schon von Merowingern genutzte Straße. Auf der ist Luther aus Wittenberg zwei Wochen lang hierher gereist. Nach fünf Tagen wird er zurückreisen.
Wir erreichen nach die nach Luthers Gang von der Schuhmacherzunft bald umgenutzte älteste Marburger Kirche (4) und weiter oben den Holzmarkt mit dem Patrizierhaus, in das der Gründungsrektor der neuen Universität eingezogen ist (5). Scharf nach links abbiegend von der Süd-Nord-Achse Richtung Elisabethkirche nach Westen erreichen wir den Hauptmarkt. Den legten 1180 die Thüringer Landgrafen den Burghang hinauf an. Bis heute erfuhr er nur Fassadenerneuerungen. Über dem Café-Eingang am Eckhaus links (6) sehen wir den Wappenstein 1495 des Patrizierhauses, in dem Landgraf Philipp den extra aus Erfurt geholten Buchdrucker schon 1527 Luthers Taufbüchlein und seine deutsche Übersetzung des Neuen Testaments für jede Kirche Hessens hatte drucken lassen - und das Loblied auf die Gründung der Universität des "ruhmreichen Fürsten".
Gerühmt wurde auch das "gleichsam aus Marmor erbaute" Rathaus (7): Luther sah den selbstbewussten Bürgerbau aus fürstlichem Stein frisch weiß verputzt mit der leuchtend farbigen heiligen Ahnfrau Elisabeth als Wappenhalterin des Landgrafen Philipp, der doch weiter die Stadt- und Landesherrschaft beanspruchte.
Philipp hatte auch nicht "seine Stadt Marburg", sondern die hoch darüber weithin "strahlende Feste" (14) zum Schauplatz der ersten und einzigen Begegnung Luthers und Zwinglis bestimmt. Deshalb sehen wir den Aufsehen erregenden Tross jetzt am Marktbrunnen vorbei den steilen Obermarkt hinauf das ursprünglich einzige Steinerne Haus (8) der ganzen Stadt passieren. Anschließend biegen sie darüber links in die Steinwelt der Ritterhöfe ein.
Wir aber nehmen zunähst einen anderen Weg: queren den Markt in die Barfüßerstraße hinein, um beim nächsten Markt mit dem Bärenbrunnen das stolze, aber falsche Schild zu entdecken: "Hier wohnte Martin Luther 1529" am damaligen "Gasthof zum Bären" (9); und im Gast- und Handelshaus der Patrizierfamilie Schwan (10) gegenüber habe Zwingli gewohnt. Diese einzigartige Begegnung, diesen "Wendepunkt der Reformationsgeschichte", der "Marburg in den Blickpunkt der Weltöffentlichkeit rückte" - so schreiben Historiker - hätten die Marburger zu gern an der Hauptachse ihrer Stadt gehabt. Luther und Zwingli samt Tross wären dann zu Fuß hinauf zur zwischen den Bürgerhäusern hier unten und den Ritterhöfen da oben dem Hang abgerungenen Terrasse gestiegen: zur Lutherischen Pfarrkirche St. Marien (11), seit 1527 Philipps Ausgangspunkt und Musterkirche der Reformation für ganz Hessen. Und hätten von hier die Ritterstraße und die bis heute unveränderte Schlosszufahrt (12) (Landgraf-Philipp-Straße) erreicht und zwischen hohen Mauern erklommen.
So oder so sahen sie rechts das gotische Portal (13) zum Amts- und Wohnsitz des Kanzlers Johann Feige und Sitz des Hessischen Hofgerichts: zwei Gründe für Philipps Wahl Marburgs als Vorort der Reformation. Und sahen über sich hoch- und spätgotisch aufragen als Krone über Stadt und Land den Stammsitz der Hessischen Landgrafen. Der war erst kurz vorher durch West- und Ostflügel und Querhaus im Dach reich ausgebaut worden. So konnten endlich - nach den Schweizern schon am 27. September - nun auch die Sachsen vom Landgrafen persönlich "gnädig, aufs freundlichste und recht fürstlich empfangen" und "alle in das Schloß genommen und recht fürstlich logiert und gespeiset" werden (14).
Die von Philipp klug inszenierte "freundliche, undisputirliche untherrede" im privaten Ambiente seiner Fürstenwohnung führte dazu, dass die Kontrahenten in 14 1/2 Artikeln ihre erreichte Einigkeit bekundeten und am Ende ihren Willen, die weiter bestehende Uneinigkeit über Gottes leibliche oder symbolische Gegenwart in Brot und Wein "friedlich und gut" zu ertragen. Im Marburger Religionsgespräch wurde am 4. Oktober 1529 die Basis erreicht und von allen unterschrieben für 18 Jahre Ausbreitung und Festigung der Reformation. Zudem wurde der Anstoß gegeben zu immer neuen Einigungsanstrengungen, bis endlich 444 Jahre später mit der Leuenberger Konkordie 1973 Philipps Ziel erreicht war: die Abendmahls- und Kanzelgemeinschaft aller Evangelischen Kirchen.
Renate Lührmann