DR. THOMAS SPIES. OBERBÜRGERMEISTER
Dass auch der Weg zurück in die Normalität immer ein Weg nach vorn ist, weiß im Grunde jeder Mensch, der einmal krank war. Je ernster die Erkrankung ist, desto länger oder härter kann der Weg sein, desto kleinere Schritte muss man machen. Und auch die Normalität ist am Ende womöglich nie mehr ganz dieselbe wie zuvor. Das kann die Menschen ungeduldig und manchmal sogar unzufrieden machen. Aber es steckt auch immer die Chance einer Neubewertung darin; einer Neubewertung dessen, was man hatte, und auch dessen, was man haben möchte.
Das gilt – gerade bei einer Pandemie – nicht nur für Individuen, sondern auch für eine Gesellschaft als Ganzes. 2020 war das Jahr, in dem wir alle wieder lernen mussten, dass unsere Pläne und Wünsche, Träume, Hoffnungen und erst recht unsere Ansprüche und Forderungen – auch an uns selbst – immer nur die eine Hälfte des Lebens sind. Dass die andere meist aus Notwendigkeiten, Einschränkungen und Unausweichlichkeiten besteht, hatten wir gründlich verdrängt. Aber es geht aufwärts, mit Riesenschritten! Wissen Sie, wie lange es normalerweise dauert, einen Impfstoff zu entwickeln? Wir haben das in knapp acht Monaten geschafft. Wenn es wieder wärmer und die Tage länger werden, wird alles wieder besser.
Und schon im nächsten Sommer wird auch eine dreiwöchige Großveranstaltung wie die 44. Marburger Sommerakademie aller Voraussicht nach wieder stattfinden. Rund 250 Teilnehmer*innen aus ganz Europa werden dann wieder schauspielern, tanzen, malen, bildhauen und die Erfahrungen, die wir 2020 alle machen mussten, bunt, vielfältig und kreativ umsetzen können. Ich bin sehr gespannt auf die Neubewertungen unserer Realität, die Sie dabei vornehmen und mit der Sie unsere Stadt einmal mehr bereichern werden. Wir freuen uns auf Sie!
Dr. Thomas Spies, Oberbürgermeister
BRITTA SPRENGEL. FACHDIENST KULTUR, AKADEMIELEITERIN
Eine Sommerakademie als Experimentierfeld
Wir blicken auf ein wahrlich besonderes Jahr zurück – und manche Herausforderung liegt noch vor uns. Wie ein Wirbelsturm hat die Covid 19-Pandemie auch die Kunst- und Kulturschaffenden, die kulturellen Einrichtungen sowie die Veranstaltungsbranche durchgeschüttelt und ungewohnte Anforderungen an uns gestellt. Immer neue Strategien und Lösungen im Umgang mit Corona zu finden, Unterstützung zu bieten und den Weitblick nicht zu verlieren, ist und war für uns alle eine aufreibende Aufgabe.
Alles, was die Marburger Sommerakademie ausmacht – vor allem das menschliche Miteinander und das Lernen voneinander –, war infrage gestellt, und eine Durchführung im Sommer 2020 schien schlichtweg zu riskant. Nachdem die Würfel im Frühjahr für eine Absage gefallen waren, haben wir dennoch einen Schritt in die Offensive getan und blicken nun auf neue, spannende Erfahrungen zurück.
Wir haben uns als Schnittstelle verstanden, die Sie als Teilnehmer*innen mit unseren Dozentinnen und Dozenten verknüpft. Die große Herausforderung lag darin, die Verbindung zu halten, die in diesem Jahr persönlich nicht möglich war. Daraus hat sich etwas Großartiges entwickelt, mit dem wir vorab nicht gerechnet hatten. Denn wer hätte noch vor einem Jahr gedacht, dass die Digitalisierung auch in der Sommerakademie Einzug halten würde?
Auf einmal eröffneten sich neue Perspektiven: Wie baut man eine Brücke zwischen zwei Dingen, die auf den ersten Blick scheinbar nicht zusammenpassen? Allen voran haben sich unsere Dozent*innen mit den digitalen Möglichkeiten vertraut gemacht und ein Potpourri an neuen Vermittlungsformen wie Web-Meetings, Videos, Anleitungen, Sprechstunden etc. für unsere Homepage zusammengestellt. Viele Menschen – Teilnehmer*innen und Interessierte von außerhalb – haben diese Angebote angenommen und sich keine Grenzen setzen lassen, um dieses Experimentierfeld zum Mitmachen in seiner Fülle zu nutzen. Das sogenannte Familienalbum, das Sie mit Ihren Fotos gefüttert haben, hat die Bandbreite Ihrer kreativen Arbeit widergespiegelt. Wie wunderbar, dass wir mit Ihren persönlichen Arbeiten die vorliegende Broschüre bebildern dürfen! Auch die Ausstellung mit Linolschnitten von Philipp Hennevogl – die wir in der Brüder-Grimm-Stube trotzdem aufgebaut und für die wir besondere Besuchsformen entwickelt hatten – wurde ins Internet gestellt; so konnten Besucher*innen überall in der Welt die Grafiken am Bildschirm sehen und vom Künstler gesprochene Texte hören. Dieser barrierefreie Zugang ist einer der neuen Wege, die wir weiterverfolgen möchten.
Es ist uns gelungen, die Kommunikation zwischen allen Beteiligten zu halten, und so ist uns gemeinsam etwas Spannendes geglückt. Nun blicken wir mit Zufriedenheit und ein wenig Stolz auf das zurück, was wir in diesem Jahr – im Ursprung sicher ungewollt – erreicht haben: eine kleine, aber sehr feine digitale Variante einer Sommerakademie, die uns für die Zukunft mutiger und erfindungsreicher gemacht hat.
Wir möchten uns für Ihre Einsendungen, Rückmeldungen, Ihren Zuspruch und vor allem Ihr großes Verständnis bedanken und fiebern schon dem Sommer 2021 in Marburg entgegen! Wir freuen uns auf ein Wiedersehen! Bleiben Sie gesund und zuversichtlich!
v.l.n.r.: Mirjam Klein, Laura Groddeck, Britta Sprengel und Rebekka Gilbert (Team aus dem Fachdienst Kultur); Standbild aus einem Begrüßungsvideo für die Sommerakademie 2020 von Roman Kabucov© Roman Kubacov
SELINA SENTI. KÜNSTLERISCHE LEITERIN DARSTELLENDE KUNST
Auf luftigen Wegen
Ich setzte den Fuß in die Luft, und sie trug. Hilde Domins Satz zeugt für mich von Mut und Vertrauen, vom Vertrauen in sich und ins Leben. Vor meinem inneren Auge entsteht das Bild eines nackten Fußes und von viel Weite drum herum, und das Surreale an diesem Bild bringt mich zum Schmunzeln und Leuchten.
Ob es einfach war, den Fuß in die Luft zu setzen? Oder wie ein Sprung vom 10-Meter-Brett? Gab es ein Zögern, Ringen, Sich-Überwinden? Oder hat sie es „einfach gemacht“? Wie wohl die Luft gerochen hat? Wie eine Wiese nach dem Regen? Nach modernden Blättern und Moos? Oder ofenwarmem Brot? Und wie viel Luft wohl drum herum war? Ganz viel lichte Weite? Hilde Domins Satz beinhaltet auch das, was sich in den darstellenden Kursen bündelt: Weite, innere Weite, Surrealismus, Kreativität, Raum schaffen und darauf vertrauen, dass da etwas kommt, sowie Platz für scheinbar Widersprüchliches. Darstellendes Spiel ist ein flüchtiger Moment. Oder eine Aneinanderreihung von flüchtigen Momenten. Wir erschaffen Flüchtiges, mit unserem Körper zeichnen wir einen Ausdruck in die Luft, schieben sie mit dem Körper weg, formen sie, lassen den Klang seinen Weg bahnen.
Etwas wagen, auch dafür steht Domins Satz. Im Sommer 2020 haben wir mit der digitalen Sommerakademie ebenfalls den Fuß in die Luft gesetzt, und viele von Ihnen sind diesen Schritt mit uns gegangen, wofür ich Ihnen sehr dankbar bin! Der Fuß hat Halt gefunden in der Luft, und ich hoffe, dass auch Sie trotz der ultimativ anders stattfindenden Sommerakademie 2020 viel Zusammenhalt gespürt haben. Ich freue mich bereits jetzt, wenn wir uns kommenden Sommer wieder tatendurstig bei keckem Spiel sehen.
Selina Senti, Künstlerische Leiterin darstellende Kunst (rechts im Bild)
ANA LAIBACH. KÜNSTLERISCHE LEITERIN BILDENDE KUNST
Leuchtende Augen
Ein leidenschaftlicher Grund, an der Sommerakademie teilzunehmen, ist natürlich die Kunst. Kunst, ein Transformator unserer Gefühle und Gedanken, darf frech, laut, feinsinnig, Herz zerreißend, planvoll, unbeschreibbar sein. Lässt man sich auf sie ein, zwingt sie uns zu agieren, schauen zu lernen, Entscheidungen zu treffen, und sie stellt uns, einem Spiegelbild gleich, vor unsere eigenen Herausforderungen.
Dabei wird unsere Kreativität von einem sicheren Impulsgeber begleitet: der Unsicherheit. In der Gesellschaft ist Unsicherheit ein unliebsames Kind. Für uns Kulturschaffende ist sie eine ständige Begleiterin, die wir manchmal schmollend am kleinen Finger hinter uns herziehen. Sie ist fest verankert im künstlerischen Prozess; denn wenn wir wüssten was uns erwartet, wäre jede Experimentierfreude geraubt, jeder Versuch und jedes Erproben bereits im Keim erstickt.
Daher ein kleines Lob auch an die ach so verpönte Unsicherheit, die uns den Kick gibt flexibel zu bleiben.
Ein weiteres Herzensanliegen der Sommerakademie ist – neben dem künstlerischen – auch der persönliche Austausch, die Kontakte und Freundschaften, die sich entwickeln. Es wird eine schöne und spannende Herausforderung für uns sein, neue Wege der Nähe und des Zusammenseins zu entwickeln. Anstelle einer herzlichen Umarmung könnten Sie, optional, ganz ungeniert Popo an Popo schwenken.
Ich wünsche Ihnen allen bereits schon heute vielfältige Ideen, die Sie in Marburg umsetzen möchten, eine zügellose Leidenschaft, die Sie antreibt, ein fideles und putzmunteres Immunsystem und unzählige Momente mit leuchtenden Augen.
Ana Laibach, Künstlerische Leiterin bildende Kunst (links im Bild)