© Patricia Grähling, Stadt MarburgLautstark, aus tausend Kehlen und voller Inbrunst sangen die Demonstrierenden im Herzen der Stadt gemeinsam „Bella ciao“, das italienische Partisanenlied aus dem Zweiten Weltkrieg gegen den Faschismus, angeleitet von der stimmgewaltigen Sängerin Letso Rose Steinhoff auf der Bühne. Beim gemeinsamen „We shall overcome“ samt frenetischem Beifall für die Sängerin hatten nicht wenige in der Menschenmenge am Ende Tränen in den Augen.
Mehr als 120 Unterstützergruppen
„Wir stehen heute zusammen gegen Hass und Hetze, gegen Lügen und Verleumdungen“, eröffnete Oberbürgermeister Dr. Thomas Spies die Kundgebung „Marburg gegen Rechts“. Spies übernahm das Mikro vom Duo Arkaden, das die Teilnehmenden schon zu Anfang musikalisch eingestimmt hatte. © Patricia Grähling, Stadt Marburg
Statt eines Demonstrationszugs blieb die Veranstaltung am gleichen Ort, weil schon im Vorfeld ob der mehr als 120 Unterstützergruppen aus der Stadt und dem ganzen Landkreis unter dem Demo-Aufruf mit sehr großer Resonanz gerechnet worden war. So kam es dann auch: Verkündete der Oberbürgermeister zu Beginn die Zahl von 12.000 Teilnehmenden – „und es kommen immer noch mehr“ – war die Menge der Demonstrierenden eine Stunde später nach Polizeiangaben auf rund 16.000 Menschen angewachsen. So viel wie noch nie in den Straßen der Universitätsstadt.
OB Spies: "So hat es auch damals angefangen"
„Wir stehen zusammen gegen diejenigen, die aus ihrem Hass ein System staatlicher Bosheit machen wollen“, sagte Spies unter großem Beifall. ,„So hat es damals auch angefangen“, zitierte der OB die Holocaust-Überlebende Margot Friedländer: mit Wahlergebnissen, die binnen fünf Jahren von unter drei auf 43 Prozent für die NSDAP 1933 springen, mit offener Menschenfeindlichkeit, mit Verächtlichmachung von allen, die dem rassistischen Menschenbild der Rechtsextremen nicht entsprachen, mit dem erklärten Willen, Millionen Menschen aus der Gemeinschaft zu vertreiben, ihre Existenz, ihre Lebensgrundlage, am Ende die Menschen selbst zu vernichten. „So hat es damals auch angefangen, mit dem Ruf, ,die anderen‘ an die Wand zu stellen“, erklärte Spies: „Und viel zu wenige wollten glauben, dass die Menschenfeinde genau das wahrmachen würden, was sie offen angekündigt haben.“
OB kündigt neues Marburger Bündnis gegen Rechtsradikalismus an
Dagegen stellte der Oberbürgermeister die Losung „Nie wieder ist jetzt!“, mehrmals und wieder unter viel Applaus. „Nie wieder heißt: Wir stehen zusammen, vor allem gemeinsam an der Seite aller, die am Wannsee gemeint waren. Alle gehören dazu, hier und heute und jeden Tag“. Die Gründung eines neuen „Marburger Bündnisses gegen Rechtsextremismus, für Demokratie und Menschenrechte“ kündigte Spies noch vor Ort an, zu dem er in den kommenden Wochen alle einladen werde, die zur Demonstration aufgerufen haben.
© Patricia Grähling, Stadt MarburgFür den Ausländerbeirat in der Stadt Marburg trat die Vorsitzende Sylvie Cloutier ans Mikrofon und weitere Mitglieder mit ihr auf die Bühne. „Wir sind hier und wir bleiben hier“, rief Cloutier und machte deutlich, was Vielfalt für alle Seiten bedeute – und wie Marburg ohne Menschen mit Migrationshintergrund aussehen würde:
Sylvie Cloutier: "Ihr braucht uns doch"
„Ihr braucht uns doch. Wir sind eure Bademeister*innen, eure Busfahrer*innen, eure Erzieher*innen und eure Unternehmer*innen.“ Sie fragte, ob sie und die anderen aussehen würden wie ein Problem. „Nein! Wir sind Menschen, die das Leben an diesen Ort verschlagen hat, zu anderen Menschen, die das Glück hatten, hier geboren zu sein und nicht in Kriegsgebieten.“ Marburg sei ihre Heimat geworden. „Wir bleiben hier!“, rief Sylvie Cloutier mit Nachdruck, begleitet von großem Beifall für sie und ihre Mitstreiter*innen.
Dass auch die Marburger Kinder und Jugendlichen für Vielfalt, Toleranz, Offenheit und Respekt sowie vor allem für Bildung und Beteiligung sind, demonstrierten Lasse Wenzel und Marie Kaiser vom Marburger Kinder- und Jugendparlament bei der Kundgebung eindrucksvoll.
Marie Kaiser: "Wir wollen in unserer Demokratie alt werden"
Sie wollen „Verantwortung für unsere Zukunft übernehmen, denn Demokratie kennt keine Altersgrenze“, so Wenzel und Kaiser. © Patricia Grähling, Stadt MarburgSie forderten mehr politische Bildung in- und außerhalb der Schulen: „Wenn Kinder früh anfangen mitzureden, werden sie Politik besser verstehen und nicht auf populistische Parolen hereinfallen“, sagte Lasse Wenzel. Denn wer über die Gefahren Bescheid wisse, werde sich klar gegen einen Rechtsruck in der Gesellschaft stellen. „Wir wollen in unserer Demokratie alt werden“, betonte Marie Kaiser. „Nur, wenn wir alle im Gespräch bleiben, können wir unsere Demokratie erhalten“, lautete die Botschaft des KiJuPa: „Helft uns, das sicherzustellen.“
Michael Heiny von der Geschichtswerkstatt erinnerte daran, dass am 27. Januar 1945 Auschwitz befreit wurde. Auschwitz wurde das Symbol für die Verfolgung, Deportation und Ermordung von Menschen - „all jene, die die völkische NS-Ideologie zu Volksfeinden erklärt hatte und gnadenlos verfolgte“, so Heiny.
Michael Heiny: "Gegen Brandstifter und Biedermänner"
Er ordnete die Rolle des braunen Marburgs und der völkisch-nationalistischen Burschenschaften ein. Diese würden auch heute „rechte Vordenker wie Höcke“ zu Veranstaltungen einladen, welche geistige Brandstifter seien mit ihren Plänen zur „Remigration“. „Lernen wir aus unserer Geschichte, setzen wir uns solidarisch ein für Gleichheit und Menschenwürde. Stellen wir uns in der Wahlkabine, am Arbeitsplatz, in der Nachbarschaft gegen diese Brandstifter und Biedermänner.“
In Namen der Philipps-Universität Marburg stellte Präsident Prof. Dr. Thomas Nauss klar: „Vielfalt und Freiheit sind wichtig, damit die Wissenschaft ihren Dienst für die Gesellschaft leisten kann. Die Vielfalt der Menschen, ihre Biografien, ihre Kulturen und Perspektiven bieten dieses Potential.“ Außerdem betonte der Uni-Präsident das unabdingbare Zusammenspiel von „Demokratie, Freiheit und Wissenschaft – sie bedingen einander und brauchen einander“, so Prof. Nauss. „Lassen Sie uns zeigen, dass wir zusammenstehen.“
Dr. Elke Neuwohner: "Unser Land und unsere Stadt bleiben frei, bunt und solidarisch"
Zum Abschluss der Kundgebung sprach die Stadtverordnetenvorsteherin Dr. Elke Neuwohner im Namen der Stadtverordneten. „Wir hatten schon mal einen Diktator in diesem Land. Der auch vorher detailliert aufgeschrieben hat, was für furchtbare Dinge er vorhat. Das hat man nicht sehen wollen. Diesen Fehler des Verharmlosens, des Nicht-sehen-Wollens, dürfen wir nie wieder machen“, betonte sie. Faschisten müssten nur eine Wahl gewinnen: „Wenn sie einmal an der Macht sind, bekommt man sein Land erst dann wieder, wenn es in Trümmern liegt“, warnte Neuwohner. Die Gesellschaft und auch die Politik seien gefordert, sich zu wehren und den Krisen erfolgreich zu begegnen. Wer überlege, auszuwandern, solle das nicht tun, bat sie: „Das ist unser Land und das sind unsere Straßen, gemeinsam sorgen wir dafür, dass unser Land und unsere Stadt frei, bunt und solidarisch bleiben.“
© Patricia Grähling, Stadt Marburg
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