© Birgit Heimrich, Stadt Marburg
„Dieser Anschlag ist ein Anschlag auf uns alle. Euer Schmerz ist unser Schmerz, Eure Angst ist unsere Angst, Eure Verzweiflung ist unsere Verzweiflung. Denn dieser Angriff galt nicht nur der jüdischen Gemeinde in Halle, er galt uns allen und er betrifft uns alle“, sagte Oberbürgermeister Dr. Thomas Spies bei der Kundgebung an der mittelalterlichen Synagoge am oberen Markt. Und: „Wir sind erschüttert und verletzt. Unser Mitgefühl gilt den Opfern und allen, die bedroht sind oder sich bedroht fühlen. Sie sollen, Ihr sollt alle wissen: Wir stehen immer an Eurer Seite.“
© Simone Schwalm, Stadt Marburg
Losgegangen war die Demonstration am neuen Gotteshaus der Jüdischen Gemeinde Marburg im Südviertel. Dort versammelten sich rund 1200 Teilnehmer*innen zu Beginn hinter dem Transparent „#wirstehenzusammen“ – jener Formel, die binnen weniger Stunden nach dem rechtsextremistischen Anschlag in Halle zum Motto der millionenfachen Solidaritätsbekundungen wurde.
Angeführt wurde der Demonstrationszug von Oberbürgermeister Dr. Thomas Spies, Stadtverordnetenvorsteherin Marianne Wölk, Monika Bunk vom Vorstand der Jüdischen Gemeinde Marburg, Propst Helmut Wöllenstein, Dr. Hamdi Elfarra von der Islamischen Gemeinde Marburg sowie den beiden Marburger Landtagsabgeordneten Dirk Bamberger und Jan Schalauske.
© Simone Schwalm, Stadt Marburg
Auf dem Weg von der neuen Synagoge in der Liebigstraße vorbei am Garten des Gedenkens bis zum Zentrum des Marburger jüdischen Lebens im Mittelalter schlossen sich immer mehr Demonstrant*innen an. So nahmen insgesamt rund 3000 Menschen am Zug teil. Am oberen Markt und vor dem Glaskubus der alten Synagoge drängten sich bei der Kundgebung noch rund 2000 Teilnehmende, um die Redebeiträge von OB Spies, Marianne Wölk, Propst Wöllenstein, Dr. Elfarra und schließlich Monika Bunk zu hören – alle begleitet von zustimmendem Applaus, der immer wieder aufbrandete.
© Simone Schwalm, Stadt Marburg
„Wer Hass und Hetze predigt, der trägt Mitverantwortung“, stellten Dr. Thomas Spies und die anderen Redner*innen klar. Wer Hass säe, wer Antisemitismus, Rassismus, Menschenfeindlichkeit propagiere, trage Mitschuld, so der Oberbürgermeister. Terroristen entstünden nicht aus dem Nichts, sie seien das Produkt eines Klimas von Hass und Hetze und Menschenfeindlichkeit. Auch der Täter in Halle kein einzelner Täter. Er sei offensichtlich Teil eines wachsenden Netzes von Rechtsradikalen, eines völkischen Diskurses, der inzwischen von manchem Politiker rechtsradikaler Parteien in die Talkshows getragen werde und der sich über Internet längst transnational organisiere, führte Spies aus. „Diese Tat war kein ,Alarmzeichen‘, sondern der Ernstfall“ – darin war sich der OB mit allen weiteren Redner*innen einig.
© Birgit Heimrich, Stadt Marburg
Dieser terroristische Akt müsse nicht „alarmieren, sondern uns zum konsequenten Handeln bringen, gegen Antisemitismus, Rechtsextremismus, gegen jede Form von Diskriminierung und Menschenfeindlichkeit, mutig, jeden Tag“, sagte OB Spies unter lautem Beifall der Zuhörer*innen. „Es darf keinen Zweifel geben: Wer Menschen nach Kategorien abwertet, seien sie rassistisch, seien sie frauenfeindlich, seien sie homophob oder antisemitisch, wer extremistisches Gedankengut verbreitet, der stellt sich außerhalb unserer demokratischen Gesellschaft.“
© Simone Schwalm, Stadt Marburg
Eben diese freie, offen und plurale Gesellschaft zu zerstören, sei das Ziel der Rechtsextremisten und Antisemiten, führte Marianne Wölk, Vorsteherin des Marburger Stadtparlaments, aus. Sie prangerte die „kalkulierte Verrohung der politischen Debatte durch Rechtspopulisten“ an und forderte eindringlich eine konsequente Verfolgung und Sanktionierung von Hassbeiträgen sowie einen funktionierenden Rechtsstaat, der über jeden Zweifel erhaben sei, und eine angewandte Kultur des Widerspruchs gegen Menschenfeindlichkeit. „Lasst uns die Demokratie achten, leben und lernen und lasst uns Stärke zeigen im Kampf gegen Rechtsextremismus und Antisemitismus“, rief Marianne Wölk den Marburger*innen zu. Sie jedenfalls sei stolz auf diese Stadt sei, die mit so vielen Menschen auf die Straße gehe.
© Simone Schwalm, Stadt Marburg
Propst Helmut Wöllenstein trat für die Evangelische und Katholische Kirche sowie für die Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit ans Mikrofon – „aber noch mehr als eine Stimme der Zivilgesellschaft, weil es heute bei aller Vielstimmigkeit viel wichtiger ist, dass wir zusammenstehen“. Er schäme sich, so Wöllenstein, in einem Land zu leben, von dem die größten antisemitischen Exzesse der Geschichte ausgingen und in dem es jetzt diesen „wahnsinnigen Anschlag“ gebe – „in einer Dimension, die es nach dem Naziterror so bei uns nicht gegeben hat“. Er schäme sich auch als jemand, der mit Verantwortung trage für religiöse Bildung. „Wie kann es sein, dass ein Drittel der Jugendlichen bei Umfragen nichts vom Holocaust weiß, ein weiteres Drittel kaum etwas?“ Und wie könne die AfD sagen, sie habe mit solchen Taten wie in Halle nichts zu tun, wenn sie den Holocaust als „Vogelschiss“ in einer sonst ruhmreichen deutschen Geschichte bezeichne? „Für wie dumm halten sie uns eigentlich?“, fragte Helmut Wöllenstein unter dem Beifall der Demonstrierenden.
© Simone Schwalm, Stadt Marburg
„Wir verurteilen jeden, der zu Hass und Spaltung aufruft“, griff Dr. Hamdi Elfarra die Empörung seiner Vorredner*innen gegen all diejenigen auf, die öffentlich an vielen Orten Hass äußern – gegen Juden, gegen Muslime, gegen Frauen, gegen jeden, „der anders ist oder anders sein will“. Das sei in den vergangenen Jahren wieder möglich geworden – „sogar wieder in unserem Parlament!“ „Liebe Geschwister der Jüdischen Gemeinde in Marburg und überall, wir trauern alle mit euch und um die Opfer eines Hass-Täters“, sagte Elfarra und rief dazu auf, stattdessen zu denen zu gehören, die Menschen am Leben erhalten, die sich für Frieden und Barmherzigkeit, für eine inklusive, friedliche, solidarische, füreinander einstehende, anerkennende und freundliche Gesellschaft einsetzen.
© Simone Schwalm, Stadt Marburg
Monika Bunk von der Jüdischen Gemeinde Marburg dankte allen und berichtete von den vielfachen Solidaritätsbekundungen aus Politik, Religionsgemeinschaften und Bürgerschaft, die sie in den vergangenen Tagen erhalten hätten. Sie forderte gleichzeitig: „Lasst das keine einmalige Sache sein! Seid bitte immer aufmerksam, in eurem Alltag, in der Schule, an der Uni, im Verein, am Arbeitsplatz, auf dem Fußballplatz. Nehmt die alltäglichen Diskriminierungen, Antisemitismen und Hassworte wahr, die an eure Mitmenschen gerichtet werden“, rief sie den Menschen zu, „schweigt nicht, handelt, zeigt Gesicht!“
© Simone Schwalm, Stadt Marburg
Rechtsradikale Hetze und persönliche Diffamierung sei keine „freie Meinungsäußerung“, stellte Monika Bunk fest. „Judenhass ist Menschenhass. Ausländerhass ist Menschenhass“, so Bunk. Aber: „Wir sind mehr. Wir Demokraten, die wir für unsere freiheitliche, liberale Gesellschaft stehen, sind mehr. Das müssen wir auch offensiv leben und im engen Schulterschluss zusammenstehen“, so Bunk, „wir werden weiterhin Gesicht zeigen und den Mund aufmachen – gemeinsam mit euch allen“.
Das bekräftigte auch OB Spies: „Wir stehen in Marburg zusammen gegen Antisemitismus, gegen Rechtsextremismus, gegen jede Form von Diskriminierung und Menschenfeindlichkeit – nicht nur heute, sondern jeden Tag.“
Die komplette Rede von Oberbürgermeister Dr. Thomas Spies finden Sie hier.
Die Rede von Monika Bunk von der Jüdischen Gemeinde Marburg finden Sie hier.
Die Rede von Stadtverordnetenvorsteherin Marianne Wölk finden Sie hier.
Die Rede von Probst Helmut Wöllenstein finden Sie hier.
Die Rede von Dr. Hamdi Elfarra von der Islamischen Gemeinde Marburg finden Sie hier.