Die Bundesrepublik ist eine repräsentative Demokratie. Die Verfassung überträgt Entscheidungen den gewählten Gremien. Plebiszite Elemente – also etwa Entscheidungen durch die Bürger*innen direkt – sind sehr eng geregelt. So muss ein Bürgerbegehren alle rechtlichen Vorgaben erfüllen, um zugelassen werden zu können. Die Parlamente können und dürfen kein Bürgerbegehren zulassen, das gemäß den rechtlichen Vorgaben nicht zulässig ist. Entsprechend wird das Parlament das Bürgerbegehren zu MoVe 35 ablehnen müssen.
Denn: Das jüngst eingereichte Bürgerbegehren, das sich mit dem Mobilitäts- und Verkehrsentwicklungskonzept MoVe 35 der Universitätsstadt Marburg befasst, ist nach Feststellung des Wahlamtes der Universitätsstadt Marburg aus mehreren Gründen nicht zulässig. In der rechtlichen Beurteilung der Fragestellung hat das Wahlamt dazu externe Fachkunde durch Prof. Dr. Dr. Martin Will, M.A., LL.M. (Cambridge) eingeholt. Professor Will hat einen Lehrstuhl für Staatsrecht, Verwaltungsrecht, Europarecht, Recht der neuen Technologien und Rechtsgeschichte an der EBS Law School in Wiesbaden inne.
„Die rechtlichen Anforderungen für ein Bürgerbegehren sind nicht erfüllt, auch wenn das Quorum erreicht wurde. Insbesondere sind die Fragestellung und die Begründung aus gleich mehreren Gründen rechtlich unzulässig“, erklärt Dr. Nicole Pöttgen, Wahlleiterin der Universitätsstadt Marburg.
Das Quorum: Für ein Bürgerbegehren sind Unterschriften von 5 Prozent der 57.935 Wahlberechtigten bei der letzten Wahl in Marburg nötig – also 2.897 Unterschriften. Eingereicht wurden 6.827 gültige Unterschriften (von 8.399 eingereichten Unterschriften). Ungültig waren Unterschriften etwa, weil die Unterzeichnenden minderjährig sind, nicht in Marburg gemeldet sind oder unvollständige Angaben zur Person gemacht haben.
Die Fragen: Zwingende rechtliche Voraussetzung für die Zulässigkeit der Frage ist, dass allein aus dem Text der Fragestellung und der Begründung völlig klar ist, was mit dem Begehren erreicht werden soll. Das bedeutet: Bürger*innen, Gemeindeorgane und Verwaltung müssen klar herauslesen können, was das Ziel des Bürgerbegehrens ist und was genau eigentlich für wen zu tun ist, wenn das Bürgerbegehren erfolgreich ist. Kann es unterschiedlich interpretiert werden, ist es nicht zulässig.
Bei der vorliegenden ersten Frage können die Unterzeichnenden nicht herauslesen, dass sie mit ihrer Unterschrift einen bereits gefassten Beschluss der Stadtverordnetenversammlung verhindern würden. Es wird nicht klar, was abgeschafft werden soll und was mit „vollständig neuer Entwicklung“ gemeint ist. Soll MoVe 35 komplett abgeschafft werden? Sollen nur die 77 erwähnten Maßnahmen neu entwickelt werden? Werden die Szenarien, Leitlinien, Verkehrsanalysen anerkannt und beibehalten?
Die zweite Frage, die regelmäßige Bürgerversammlungen fordert, ist ebenfalls rechtswidrig und unzulässig. Nach der Hessischen Gemeindeordnung (HGO) kann die Stadtverordnetenversammlung nicht entscheiden, ob, wie oder wo eine Bürgerversammlung durchgeführt wird. Ein Bürgerentscheid ersetzt nach HGO die Entscheidung der Stadtverordnetenversammlung. Daher kann auch ein Bürgerentscheid nicht über Bürgerversammlungen entscheiden. Insgesamt würde die zweite Frage also eine Entscheidung herbeiführen wollen, die nicht rechtlich durchgesetzt werden kann.
Darüber hinaus: Es ist für ein Bürgerbegehren grundsätzlich nur eine Frage erlaubt, die mit Ja oder Nein beantwortet werden kann. Im vorliegenden Bürgerbegehren sind zwei Fragen aufgeführt. Diese sind inhaltlich trennbar und könnten unterschiedlich beantwortet werden. Das ist ebenfalls nicht zulässig.
Die Begründung: Auch die Begründung ist nicht ausreichend und damit ebenfalls rechtswidrig und unzulässig. Die Begründung muss den Sachverhalt darlegen und so verfasst sein, dass die Bürger*innen sich allein anhand des Textes ein Urteil bilden können. Hier wird ein konkreter Beschluss angegriffen aber nicht benannt. Außerdem wird der Inhalt des angegriffenen Beschlusses nicht beschrieben. So können sich die Bürger*innen anhand der Begründung kein Bild davon machen, welche Maßnahmen sie mit ihrer Unterschrift konkret verhindern. Das aber wäre zwingend erforderlich.
Der Kostendeckungsvorschlag: Die Kosten für eine Neukonzeptionierung werden auf 225.000 Euro geschätzt. Dabei wurden die entstehenden Kosten für die beantragen Bürgerversammlungen in Höhe von mehreren hunderttausend Euro nicht beachtet. Die Stadtverwaltung hat bei den letzten Bürgerversammlungen allein für Raummiete, Technik und Bewerbung (ohne Personal) zwischen 1000 und 2000 Euro aufgewandt. Das Bürgerbegehren fordert alle zwei Monate Sitzungen in allen 25 Ortsbezirken – das sind in zwei Jahren rund 300 Bürgerversammlungen. Dafür fallen mindestens 300.000 bis 600.000 Euro an. Das Bürgerbegehren müsste hierfür Kostendeckungsvorschläge machen. Dabei muss genau gesagt werden, welche Ausgabe gestrichen oder welche Einnahme erzeugt werden soll. Diese Angaben fehlen aber im vorliegenden Bürgerbegehren.
Das weitere Verfahren mit dem Bürgerbegehren
Die Entscheidung über die Zulässigkeit des Bürgerbegehrens wird von der Stadtverordnetenversammlung getroffen. Allerdings ist die Entscheidung „gebunden“. Das bedeutet, dass die Stadtverordnetenversammlung das Bürgerbegehren zulassen muss, wenn es rechtlich zulässig ist – und es in keinem Fall zulassen darf, wenn es nicht die rechtlichen Voraussetzungen erfüllt. Es gibt keinen Ermessensspielraum und keinen Raum für politische Überlegungen. Einen Bürgerentscheid wird es also nicht geben, das Verwaltungsverfahren endet mit dem Beschluss der Stadtverordnetenversammlung. Gegen den Beschluss können alle, die das Begehren unterschrieben haben, Klage vor dem Verwaltungsgericht einreichen.
Die komplette Beschlussvorlage mit der Einschätzung des Wahlamtes der Universitätsstadt Marburg finden Sie hier.
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