Der Diplom-Meteorologe ist auf Einladung der Stadt nach Marburg gekommen. Dass die Stadt den Klimanotstand ausgerufen hat und sich gemeinsam mit den Bürger*innen auf den Weg zur Klimaneutralität bis 2030 macht, findet Sven Plöger „toll“.
Dass der Klimawandel die Menschen bewegt – und als gefühlte Bedrohung weltweit auf Platz 1 der Sorgenskala gelandet ist, spiegelt sich an dem Abend auch in Marburg wider: Das TTZ ist übervoll, im Veranstaltungsraum selbst, am Rand, auf Fensterbänken und am Boden sitzen, stehen, drängen sich die Menschen. Das Geschehen im Saal wird auf Leinwand ins proppenvolle Foyer übertragen.
Auch nach gut zwei Stunden und Sven Plögers Vortrag samt seiner Fülle von Statistiken und Klimakurven, Satellitenfotos, Jetstream-Simulationen, Infografiken, Schnee-, Gletscher-, Dürre- und Überschwemmungsbildern, Prognosen und weiterem Anschauungsmaterial mehr sind alle noch da und voll dabei im TTZ. Kein Wunder, „die Klimakrise betrifft uns schließlich alle“, sagt Oberbürgermeister Dr. Thomas Spies zur Begrüßung, „wir wollen und wir müssen konsequent und überlegt handeln, ohne soziale Ungerechtigkeit und ohne unser gutes Zusammenleben zu gefährden“.
Auch Klima-Experte Sven Plöger sieht die größte Herausforderung der Klimakrise und ihrer Bewältigung in der Gesellschaftspolitik, in der Frage der Gerechtigkeit, im Willen und der Motivation zum Handeln – vor Ort als auch global für die 7,7 Milliarden Menschen mit ihren unterschiedlichen Lebenslagen und Interessen „in unserer mäßig gerechten Welt“.
Die Armen treffe der Klimawandel extrem, sie trügen am wenigsten dazu bei und könnten die Auswirkungen mit den Mitteln, die sie haben, nicht bewältigen, erklärt Plöger. „Uns geht es gut, den Menschen in Äthiopien oder Bangladesch nicht. Wir in Deutschland können etwas tun, das sie nicht können“. Übertragen auf die Situation im Kleinen: Wer hierzulande arm sei und deshalb zum Beispiel nie fliege, trage weniger zur Erderwärmung bei, als die Wohlhabenden, die den Globus bereisten. „Das Fliegen abschaffen, rettet aber die Welt nicht“, ist Plögers Haltung zum vieldiskutierten Thema. Stattdessen liege die Lösung „im Mix aus Verhaltensänderung und neuen Technologien“ – nicht nur in Sachen Mobilität, sondern in allen Bereichen. Wer dafür aufkommt, ist für Plöger keine Frage: „Die, die Geld haben, müssen das bezahlen, die keins haben, nicht“, sagt der Klimaexperte unter großem Beifall im Saal und davor.
Applaus brandet immer wieder auf angesichts der Leidenschaft und des Humors, mit dem der TV-Moderator und Meteorologe das komplizierte Thema samt seiner eindringlichen Botschaft an die Marburger*innen im TTZ bringt – mal mit kreisenden Armbewegungen vor dem Polarwirbel einer fiktiven Wetterkarte wie abends im Fernsehen, mal im rheinischen Dialekt oder mit Verweis auf den eigenen Blick morgens auf die Waage, Ergebnis 84,7 kg: „Da frag ich mich, warum jemand, der 85 Kilogramm Körpergewicht transportiert, dafür 3000 Kilogramm Blech mitnehmen muss?“.
Trotz seines lockeren Tons lässt Plöger keinen Zweifel daran, dass die wissenschaftliche Forschung zum globalen Klima, zur Physik dazu, hochkompliziert ist. „Man kann sie verstehen oder nicht“, so der Experte. Eine „Meinung“ zur Physik zu haben, mache dagegen ebenso wenig Sinn, wie beispielsweise gegen die Schwerkraft zu sein: „Die ist da, das gibt’s nichts dran zu deuten“. Dass die Klimaforschung vernünftig und ihre Ergebnisse richtig seien, bewiesen die nun auch hierzulande fühlbaren Auswirkungen des Klimawandelns, die schon vor 30 Jahren vorhergesagt wurden. „Der Klimawandel ist rasant und dramatisch, auch wenn der, der sich vor einen Gletscher setzt, die Veränderung nicht sehen kann“, erklärt Plöger. Bereits die Einhaltung des Pariser Klimaziels mit zwei Grad Erderwärmung „schafft eine ganz andere Welt und setzt Land, auf dem heute hunderte Millionen Menschen leben, unter Wasser“.
Die gute Nachricht des Klima-Experten: „Es ist noch nicht zu spät, wir haben noch eine Chance.“ Das Bewusstsein habe sich schon gewandelt, die Jugend fordere mit allem Recht der Welt Veränderungen ein, aber auf der großen Bühne geschehe noch nicht viel. „Wir sind noch viel zu langsam“, sagt Plöger. „Die Summe des Handelns aller Einzelnen wird es ausmachen, was wir am Ende erreichen“, sagt Sven Plöger und wiederholt den Satz noch einmal. „Es kommt auf jeden Einzelnen an. Jeder spielt eine Rolle. Wenn Deutschland eine gute Energiewende hinlegt und China das nachmacht, dann haben wir die Welt tatsächlich ein Stück weit gerettet“, schließt Plöger seinen Vortrag – unter großem Applaus.
In der folgenden Diskussionsrunde, moderiert von Bürgermeister und Klimaschutzdezernent Wieland Stötzel, stellen die Zuhörer*innen Plöger unter anderem Fragen zum Klimapaket der Bundesregierung, zum Thema Konsumverzicht, ob der Klimawandel überhaupt menschengemacht ist, ob Klimaschutz und Kapitalismus unter einen Hut zu bringen sind, wie die Eisschmelze am Nordpol den Golfstrom beeinflusst.
Die nächste Veranstaltung der Stadt zum Klimanotstand in Marburg:
8. November, 17-20 Uhr, TTZ (Softwarecenter 3): Auf dem Weg zum Klima-Aktionsplan 2030 – Auftaktveranstaltung mit Workshops, Vorträgen, Theater und Infos zum Klimaschutz in Marburg.