© Sabine Preisler, Stadt Marburg
„Arme Menschen leben in diesem Land 14 Jahre kürzer als reiche“, kritisierte er. Dies dürfe nicht sein. In Schweden liege der Unterschied dagegen bei nur zwei Jahren. Ellis Huber schilderte eindrücklich wie Städte und Gemeinden gesundheitsförderliche Lebensbedingungen schaffen können. Der Arzt ist ein ausgewiesener Kenner regionaler und kommunaler Gesundheitspolitik und gilt als medizinischer Querdenker. Für die Universitätsstadt sei die Aufgabe angesichts von Marburgs Rolle in der Medizingeschichte und den zahlreichen Studierenden natürlich eine besonders passende Herausforderung, erklärte er.
Vorab rechnete Huber vor, wie viel Geld im deutschen Gesundheitssystem steckt: Jedes Jahr nehmen die gesetzlichen Krankenkassen mehr als 200 Milliarden Euro ein. Pro Bürger stehen damit durchschnittlich 2800 Euro zur Verfügung. Umgerechnet auf Marburg beträgt die Höhe des Kassenbudgets damit 210 Millionen Euro, was in etwa dem Budget des Marburger Haushalts entspricht.
Ellis Huber plädierte für eine ganzheitliche Medizin, die auf die psychosoziale Gesundheit der Menschen achtet. „Der Weg von der Krankheit zur Gesundheit ist der Weg vom Ich zum Wir“, hob er wie Spies und in Übereinstimmung mit der Weltgesundheitsorganisation den sozialen Aspekt hervor. Schließlich verursachten Burnout, Depressionen, Angststörungen und andere psychische Erkrankungen die meisten Krankheitstage. Auch Rückenschmerzen hätten oft psychische Ursachen. Man müsse aufhören, das Heil von Tabletten und Wunderheilern zu erwarten: „Ich kann Schmerzen mit Aspirin oder mit einer Veränderung des individuellen Lebens bekämpfen“, erläuterte er. Die Arztpraxis sei deshalb ein Seismograph für „gesellschaftliche Widersprüche und soziales Fieber“.
Ausgehend von der sogenannten Ottawa-Charta der Weltgesundheitsorganisation solle „Gesundheit für alle“ zur treibenden Kraft in Städten und Dörfern werden. Huber stellte ein Beispiel aus dem Kinzigtal vor, wo sich 73 Ärzte, drei Krankenhäuser und andere Dienstleister zu einer integrierten Versorgung zusammengeschlossen haben, die sich vor allem die soziale Prävention auf die Fahnen geschrieben hat. Bereits nach neun Jahren zeigte sich, dass die Versicherten durchschnittlich 1,4 Jahre länger leben als Menschen aus einer vergleichbaren Kontrollgruppe. Zudem ist das Konzept preiswerter für die Kassen, die deshalb zu Kooperationen mit den Kommunen bereit sein.
Ein Beispiel für eine Erfolgsgeschichte ist auch die kommunale Gesundheitsförderung im baden-württembergischen Michelfeld, wo Kitas, Schulen, Kirchen und Vereine mitarbeiten. Nach zehn Jahren leben dort mehr Kinder und mehr Einwohner. Die Folge sind höhere Steuereinnahmen und mehr Betriebsansiedlungen.
Auch in Marburg gab es bereits ein vorbildliches Modellprojekt für gesunde Kinder und Erwachsene in benachteiligten Stadtteilen, auf das Huber lobend Bezug nahm: Mit knapp 50 Netzwerkpartnern erreichte „Marburg mittendrin“ rund 1100 Kinder und ihre Eltern in den Stadtteilen Richtsberg, Stadtwald und Waldtal. Das vom Bundesernährungsministerium geförderte Projekt lief 2011 aus.
Ellis Huber näherte sich dem Thema in Marburg mit faszinierenden Aspekten stets von der positiven und motivierenden Seite. So räumte er in seinem Vortrag auch mit dem Vorurteil auf, dass Alter gleichbedeutend mit Krankheit sei. Bei den 80- bis 85-Jährigen seien mehr als 81 Prozent der Menschen nicht pflegebedürftig, bei den über 90-Jährigen immer noch 41 Prozent. Am günstigsten für alte Menschen sei es, wenn sie eine sinnvolle Aufgabe hätten. „Gesundheit ist weniger ein Zustand als eine Haltung und sie gedeiht mit der Freude am Leben“, zitierte er den Theologen Thomas von Aquin. Nach wissenschaftlichen Untersuchungen wird die Gesundheit vor allem durch ein stabiles Selbstwertgefühl, gute Bildung, ein positives und aktives Verhältnis zum eigenen Körper, Freundschaften, eine intakte Umwelt sowie eine sinnvolle Arbeit mit guten Arbeitsbedingungen gefördert.
Insgesamt gebe es viele kreative Ideen, wie man kommunale Gesundheitsförderung voranbringen könne, so Huber. Er träume davon, das Gesundheitsförderpläne in den Städten so intensiv diskutiert werden wie Bebauungspläne.
Gesundheit in den Fokus zu stellen, sei auch in Zeiten knapper Kassen möglich, betonte dabei Dr. Thomas Spies. Marburgs Oberbürgermeister, der selbst Mediziner ist, will dafür unter anderem das neue Präventionsgesetz nutzen, dessen genaue Ausführungen in den nächsten Wochen veröffentlicht werden sollen. Er sei froh und dankbar über die vielen Denkanstöße, die sein Freund Ellis Huber gegeben habe.
Gemeinsam mit den lokalen Akteuren solle die Gesunde Stadt Marburg jetzt weiter entwickelt werden und wachsen. „Um das Programm von den Köpfen in die Lebenspraxis zu tragen“, so Thomas Spies. Die Stadt Marburg hatte das Thema seit dem Amtsantritt von Spies bereits verstärkt in den Mittelpunkt gestellt. So wurde in Kooperation mit den Ärzten von PriMa für die Prävention durch Impfen geworben und der Oberbürgermeister holte die Unabhängige Patientenberatung nach Marburg ins BiP. Auch eine Arbeitsgruppe zum Thema Gesundheit in der Stadtverwaltung besteht bereits.
Nach den Sommerferien soll gemeinsam mit Bürgern darüber diskutiert werden, welcher gesundheitsfördernde Weg künftig für Marburg passt. „Denn das Leben der Menschen findet zu allererst hier vor Ort statt, also werden wir alles tun, um hier gesundheitsförderliche Umstände zu schaffen", erklärte Spies. Dass Marburg dabei schon auf ein großes Potenzial zurückgreifen kann, machten sowohl Huber als auch der Oberbürgermeister deutlich.