© Sabine Preisler, Stadt Marburg
Was haben chinesische Figuren eigentlich mit Marburg zu tun? Und welche© Sabine Preisler, Stadt Marburg Geschichte(n) der Stadt erzählt wer mit dem Porzellan der einstigen Tiergarten-Gaststätte, dem Gong vom Gasthaus Hannes aus Weidenhausen, einem Schlosssouvenir, einem Foto vom Stadtteil Richtsberg oder mit dem Bierseidel aus Marburgs Traditionsbrauerei?
© Sabine Preisler, Stadt MarburgBis zum 23. April können Gäste dienstags bis sonntags von 14 bis 18 Uhr im Ausstellungssaal des Rathauses nicht nur das herausfinden. Der Eintritt ist frei. Das Besondere von „Stück für Stück“: Die Marburger*innen selbst haben ihre Erinnerungsobjekte auf Einladung der Stadt beigesteuert. Die Originale sind in der neuen Ausstellung zu sehen. Dort erklären die© Sabine Preisler, Stadt Marburg Bürger*innen in Video- und Audioaufnahmen zudem persönlich, was ihren Gegenstand für sie zu einem „Stück Marburg“ macht, warum er in ein Museum von Morgen gehört.
Über 100 Gäste sehen zum Auftakt 35 Erinnerungsobjekte von Marburger*innen
„Stück für Stück“ erzählt Stadtgeschichte damit bewusst von „Mensch zu Mensch“. Die Ausstellung setzt auf Perspektivwechsel und Beteiligung. Die Bürger*innen mit ihren Alltagsgegenständen und© Sabine Preisler, Stadt Marburg Geschichten stehen im Zentrum, kommen zu Wort. Dabei gelingt es der städtischen Ausstellung im Rathaus, behutsam den Impulsen der Bürger*innen zu folgen und die Erinnerungen zugleich mit Wortbeiträgen und Bildern zeitgeschichtlich zu rahmen sowie zum Nachdenken anzuregen.
Die elf Stationen „Verblendung“ (Kolonialismus), „Über© Sabine Preisler, Stadt Marburg Weidenhausen hinaus“ (Marburgs Tor zur Welt), „Geselligkeit und Gesellschaft“,„Schlossansichten“, „Vom Pilgrimstein zum Biegen“, „Studi-Leben“, „Synagoge – Jüdisches Leben“, „Notunterkunft am Krekel“, „Richtsberg – Buntes Quartier“, eine „Meinungs-Tauschbörse“ und das „Stadtlabor“ zum Mitmachen bieten Raum für Rückblicke auf legendäre Sommerkonzerte oder Unisommerfeste – und auch der Original-Pappmaché-Kopf vom Städteturnier „Spiel ohne Grenzen“ der 70er Jahre fehlt im Rathaus nicht. Aber vor allem sind überraschende, unbekannte Exponate zu sehen, die trotzdem Erinnerungen wecken. Anregungen für den kritischen Blick zurück sind ebenso Bestandteil wie Stimmen, die sonst wenig gehört werden, oder Menschen, die bisher seltener gesehen wurden.© Sabine Preisler, Stadt Marburg
„Es ist ein Ausstellungskonzept, das den modernen Erfordernissen von Musealität, Digitalität, Pädagogik und Beteiligung entspricht. Und das Marburg in seiner stadtgeschichtlichen Vielfalt widerspiegelt“, betonte Oberbürgermeister Spies zum Auftakt. Und das sei von höchster© Heike Döhn, i. A. d. Stadt Marburg stadtgesellschaftlicher Bedeutung. Denn „Stück für Stück“ gestalte damit auch den Weg der stadtmusealen Entwicklung, diesmal aus dem „einzigartigen Blickwinkel der Marburger Bürger*innen erzählt – anhand ihrer Alltagsobjekte, ihrer Gedanken und Erinnerungen“, dankte er als Kulturdezernent den leihgebenden Bürger*innen.
Perspektivwechsel zur Zeitgeschichte und unsere Rolle darin
„Die historische Ausstellung gibt uns und unseren Gästen auf© Sabine Preisler, Stadt Marburg außergewöhnliche Art und Weise die Gelegenheit, über Zeitgeschichte, unsere Gesellschaft und über unsere eigene Rolle darin nachzudenken. Zugleich können wir neue Perspektiven daraus entwickeln“, sagte Spies. Denn er sei überzeugt von dem, was Friedenspreisträgerin Aleida Assmann unlängst sagte, nämlich, dass die Zukunft mit dem Erinnern beginnt.
„Wer die 35 Objekte entdecken will, ist also zugleich willkommen, über© Heike Döhn, i. A. d. Stadt MarburgWege und neue Perspektiven der Erinnerungskultur nachzudenken“, so Ruth Fischer, Leiterin des Fachdienstes Kultur der Stadt. Sie ist eine der Konzeptgeber*innen der Ausstellung. „Stück für Stück“ habe Werkstattcharakter – und folgt mit seinen Zielen einem Beschluss des Marburger Stadtparlaments. Dieser spricht sich ausdrücklich dafür aus, ein zukünftiges Museumskonzept nicht allein auf bekannte zeitgeschichtliche Ereignisse und Persönlichkeiten zu reduzieren.
© Heike Döhn, i. A. d. Stadt MarburgEnde 2022 hatte die Stadt alle Marburger*innen zum Mitmachen eingeladen. Rund 30 Bürger*innen brachten sich mit ihren Erinnerungsstücken ein. Und auch Oberbürgermeister, Bürgermeisterin und Stadträtin sprechen „Stück für Stück“ über ihre persönlichen Marburg-Erinnerungen.
Gleich den Einstieg bildet ein kurioses Objekt: Ein Taxi-Funkbuch von 1962lädt mit minutiöser Auflistung der Fahrten ein, nächtliche Touren zwischen vergessenen Orten nachzuvollziehen, die wie das „Deutsche Eck“ und den „Berggarten Marbach“ längst verschwunden sind. Aber auch© Sabine Preisler, Stadt Marburg soziale, demografische oder politische Gegebenheiten in der Stadt spiegeln sich in Erinnerungen wider, ob in der Schublade mit Buttons oder mit der Verbindungsmütze, ob mit Plakaten oder einem Biegeneck-Film.
Gleich mehrere Exponate von der Werksjacke bis zur letzten Bierkiste haben die Marburger*innen zur Brauereigeschichte eingereicht. „Draußen stank es immer, aber drinnen roch´s ganz gut!“, erinnert sich eine der Leihgeber*innen an den Schulweg entlang des Pilgrimsteins noch ganz genau.
Doch auch weniger bekannte Orte, sind vertreten© Sabine Preisler, Stadt Marburg – wie der Tiergarten mit Affen und Löwen, der sich in den 30er Jahren östlich von Weidenhausen genau dort erstreckt, wo heute die Autobahn verläuft. Während hier das alte Originalgeschirr der Gaststätte in den Mittelpunkt der Ausstellung rückt, ist vom Gasthof Hannes in Weidenhausen noch der Gong des prominenten Stammtisches „Käsebrod“ erhalten.© Sabine Preisler, Stadt Marburg
Neben verschwundenen Orten lernen Gäste die Lebensgeschichte von Ilse Flachsmann kennen, eine der wenigen Jüdinnen, die sich nach ihrer Deportation und KZ entschied, nach Marburg zurückzukehren. Wie ein Bleistiftspitzer zu Erinnerungen an diese Marburger*in führt? Nicht nur das kann beim Besuch im Rathaus erkundet werden.© Sabine Preisler, Stadt Marburg
Mit einem selbstgemachten Stich und Souvenirs von Flohmärkten geht es auch um Marburgs bekanntesten Exportartikel: Das Schloss. Seit dem 17. Jahrhundert halten die Menschen die wunderbare Ansicht immer wieder fest. Aber auch der Richtsberg als einer der jüngsten und multikulturellsten Stadtteile, Marburgs Mitte oder der Rückblick auf die einstige Notunterkunft, die Siedlung Am Krekel sind bei „Stück für Stück“ vertreten.© Sabine Preisler, Stadt Marburg
Vom Geschirr der Tiergartengaststätte bis zum Mitbringsel von Soldaten
Über zwei Objekte aus dem frühen 20. Jahrhundert befasst sich die Ausstellung darüber hinaus mit dem Boxeraufstand in China und dem Völkermord an den Herero, bei denen auch Marburger Soldaten eingesetzt wurden. Puppe und Porzellanfigur sind wohl als Mitbringsel nach Marburg© Sabine Preisler, Stadt Marburg gekommen. Heute erinnern sie daran, dass Kolonialismus nicht etwa nur von großen Städten ausging.
© Sabine Preisler, Stadt Marburg„Wie und was wollen wir erinnern? Wer redet über Geschichte?“ Ausgehend von diesen Fragen haben Ruth Fischer, Julia Brandt, und Lisa Bingenheimer „Stück für Stück“ das Konzept entwickelt. Sie brachten das Projekt im berufsbegleitenden Masterstudiengang „Schutz Europäischer Kulturgüter“ an der Europa-Universität Viadrina Frankfurt/Oder auf den Weg. Alle drei arbeiten hauptberuflich in der Kulturverwaltung: Fischer ist Leiterin des Fachdienstes Kultur der Stadt, die jetzt zur Ausstellung ins Rathaus einlädt. Ihre Kommilitoninnen sind in Denkmalfachämtern beschäftigt. Für die Umsetzung in Marburg zeichnete© Sabine Preisler, Stadt Marburg sich ein Team um Rebekka Gilbert und Monika Bunk verantwortlich.
Das Ausstellungskonzept, bei dem es nicht um Vollständigkeit geht, wurde in enger Abstimmung mit einem Kuratorium entwickelt. Die Stadtteilsozialarbeit, die Blindenstudienanstalt, die universitären Sammlungen, Behindertenbeirat, Altenplanung, Sozialplanung, Ausländerbeirat, Kinder- und Jugendparlament sowie das Unimuseum brachten Wissen und Erfahrung ein.