© Patricia Grähling, Stadt Marburg
„Ich bin beeindruckt von der Arbeit, die hier geleistet wird, von den immensen Schätzen und dem vielschichtigen Wissen, das hier in den Regalen, Mappen und Alben lagert“, sagte Oberbürgermeister Dr. Thomas Spies beim Besuch des Artistenarchivs der „Kulturhistorischen Gesellschaft für Circus- und Varietékunst“ in der Ketzerbach, wo er sich über die Arbeit des Vereins und die Verwendung der städtischen Unterstützung informierte.
Unzählige gerahmte Fotos und alte Plakate hängen im Eingangsbereich in dem Archiv in der Ketzerbach 21 ½ an den Wänden – von Artist*innen, Löwen und Clowns. „Das ist eigentlich nur Beiwerk“ sagt Vereins-Kassierer Dr. Heinz Stoffregen über die farbenfrohen Plakate und die kunstvollen schwarz-weiß Fotografien. Das eigentliche Herzstück des Archivs befindet sich in den angrenzenden Räumen: Unzählige Akten über Artist*innen, die einst in Deutschland auftraten – gefüllt mit Fotos, mit Arbeitsverträgen, mit Auftrittsorten, mit Informationen über die Familienstammbäume. „Gezählt haben wir nie. Aber schätzungsweise haben wir hier Zettel zu 40.000 Artist*innen – alle vom Archivgründer Rudolf Geller per Hand beschriftet“, erklärt Stoffregen.
Über den Schränken mit den Akten reihen sich rund 200 dicke Fotoalben aneinander, darunter alleine 52 alte Alben vom Circus Krone. Ganz neu im Archiv gelandet sind die Fotoalben einer Artistenagentur, gefüllt mit den Fotos der verschiedenen Artist*innen, die die Agentur in den 1920er-Jahren vermittelt hat. „Die Alben wurden nicht für die Zukunft angelegt. Die Bilder sind mit Nadeln hineingetackert, die alle verrostet sind und die Bilder beschädigt haben“, zeigt Stoffregen dem OB. Nun werde das Archivteam sich damit befassen, wie die Fotos am besten für die Zukunft gesichert werden können – und zeitgleich rund 10 Kartons voller Unterlagen sortieren, die gerade erst aus dem Nachlass eines Zirkusfreunds aus Reutlingen übernommen wurden.
© Patricia Grähling, Stadt Marburg Ein weiterer gefragter Raum in dem Archiv ist die Bibliothek – aber nicht mehr so sehr wegen der Bücher. „Da wird mittlerweile viel digital recherchiert“, erklärt Stoffregen. Gefragter sei hier die Sammlung an Zeitschriften und Programmheften rund um Circus und Varietè. „Derzeit haben wir viele Anfragen zu Material aus dem Nationalsozialismus“, so Stoffregen. Denn: „Das Artistenarchiv ist in seiner Form einzigartig. Deswegen haben wir Anfragen von Autor*innen und Wissenschaftler*innen aus aller Welt, die etwa zu Biografien einzelner Artisten recherchieren oder beispielsweise zu jüdischen Artistenfamilien in der deutschen Kulturlandschaft.“ Etwa zwei Mal im Monat gingen wissenschaftliche Anfragen im Artistenarchiv ein. Das Archivteam selbst forscht auch in den Akten – und veröffentlicht Erkenntnisse aus eigener Forschung dann in der Deutschen Zirkuszeitung. Hauptsächlich seien die Ehrenamtlichen aber damit beschäftigt, Anfragen zu beantworten, Besucher*innen zu betreuen und um Spenden einzuwerben, damit Übernahmen finanziert werden können – etwa die Fotoalben aus den 1920er-Jahren. Ein Wunsch des Teams sei es auch, feste Öffnungszeiten im Archiv zu ermöglichen und weiter Praktikumsplätze für Studierende der Philipps-Universität anzubieten.
OB Spies betonte, wie wichtig das Engagement des Archivteams sei, um das Wissen um die Geschichte von Artistenfamilien zu erhalten – sowohl für Ahnenforscher*innen als auch für Wissenschaftler*innen. Gemeinsam mit den Vorstandsmitgliedern besprach er auch, welche Möglichkeiten und Chancen die Digitalisierung des Archivguts biete.
Zum Hintergrund:
Die „Gesellschaft der Zirkusfreunde in Deutschland“ wurde 1955 in Berlin gegründet – ein Ziel war die Eröffnung eines „Circus- und Artistenmuseums“. Das blieb jedoch erfolglos, so Artistenarchiv-Kassierer Stoffregen. 1976 beschloss daher der damalige Zirkusfreunde-Präsident Rudolf Geller aus Marburg stattdessen ein Archiv zu gründen. Er selbst sammelte mit seiner Ehefrau Lieselotte unzählige Dokumente, Fotos, Filme und Berichte, mit denen er vor allem die Lebens- und Arbeitsverhältnisse der Artist*innen erfassen wollte. Ergänzend wurden Unterlagen über Circus und Varieté gesammelt – die wichtigsten Arbeitsplätze für Artist*innen. Im Dezember 1976 wurde dann die „Kulturhistorische Gesellschaft für Circus- und Varietékunst“ in Marburg gegründet – als gemeinnütziger Träger für ein Archiv.
Unterstützt wurde das Archiv von Beginn an von der Universitätsstadt Marburg, getragen vom Ehrenamt. Die Stadt Marburg und die „Kulturhistorische Gesellschaft für Circus- und Varietékunst“ sind seither eng miteinander verbunden. Traditionell ist ein Mitglied des Magistrats im Vorstand des Vereins. Bis zu ihrem Tod hatte Marlies Sewering-Wollanek diese Position inne. Nun vertritt Uli Severin die Stadt im Vereinsvorstand.