© Thomas Steinforth, Stadt Marburg
Gewalt in der Partnerschaft hat viele Gesichter: Neben körperlicher und seelischer Gewalt erleben die Opfer auch soziale, ökonomische und sexuelle Gewalt. Die Gewalt findet meist hinter verschlossenen Türen statt und wird daher von der Öffentlichkeit sehr selten wahrgenommen. Fachleute weisen darauf hin, dass Partnergewalt in nur einem von elf Fällen zur Anzeige gebracht und somit öffentlich wird. „Gewalt im häuslichen Umfeld ist besonders perfide, weil sich Menschen gerade dort eigentlich sicher fühlen sollen“, sagte Oberbürgermeister Dr. Thomas Spies.
Gemeinsam mit JUKO und Frauen helfen Frauen setzt die Universitätsstadt Marburg mit dem Projekt „Marburg ohne Partnergewalt“ hier an: „In Marburg wird viel Solidarität und Gemeinschaft gelebt, damit haben wir ein sehr gutes Fundament“, erklärt Oberbürgermeister Dr. Thomas Spies. „Wir packen das Problem Partnergewalt als ganze Stadt an; unsere Solidarität gilt denen, die in ihrer Partnerschaft Gewalt erleiden müssen.“
Das Projekt ergänzt die langjährig erprobte Praxis der Frauenunterstützung und Täterarbeit bei Partnergewalt in der Region Marburg. Frauen helfen Frauen berät und unterstützt Frauen, die von Partnergewalt betroffen sind. JUKO bietet mit dem STOP-Training Unterstützung für Männer, die Täter geworden sind und die Partnergewalt beenden wollen. „Seit 14 Jahren arbeitet JUKO mit großem Erfolg im Bereich der Täterarbeit häusliche Gewalt. Wir sind überzeugt davon, dass unsere Arbeit mit den Tätern einen wirksamen Beitrag zum Opferschutz und zur Prävention häuslicher Gewalt leistet“, betont Maria Flohrschütz, Geschäftsführung JUKO. Frauen helfen Frauen und JUKO sind zudem gut mit relevanten Akteur*innen regional und überregional vernetzt.
Anhand der nun bereitgestellten Fördermittel ist es den beiden Trägern gemeinsam mit dem Gleichberechtigungsreferat der Stadt Marburg möglich, auf diesem stabilen Fundament der Zusammenarbeit neue Inhalte zu entwickeln. Das Projekt hat ein Gesamtvolumen von mehr als 430.000 Euro. 80 Prozent der Gesamtkosten werden durch Mittel der Europäischen Union finanziert, die Universitätsstadt Marburg steuert 20 Prozent der Summe aus Eigenmitteln bei. „Wir wollen mit dazu beitragen, dass dieses wichtige Projekt finanziell gesichert durchgeführt werden kann. Schließlich geht es hier um das Menschenrecht auf körperliche und seelische Unversehrtheit“, unterstreicht Oberbürgermeister Dr. Spies.
Ein Projektziel ist, Partnergewalt als Problem ins öffentliche Bewusstsein zu rücken. Die meisten Menschen aus der Nachbarschaft, dem Freundeskreis oder der Familie wollen helfen. Die Aufklärungs- und Öffentlichkeitsarbeit des Projekts soll sie dabei unterstützen, Partnergewalt in ihrem Umfeld besser zu erkennen, sich einzumischen und Hilfe anzubieten.
„Aus unserer Zusammenarbeit mit Vereinen und der Beteiligung in städtischen Arbeitskreisen wissen wir, was für eine unverzichtbare Arbeit gegen Partnergewalt viele Stellen in Marburg leisten. Neben der fachlichen Arbeit sind dort oftmals keine Ressourcen für Vernetzungsarbeit vorhanden. Trotzdem leisten viele Mitarbeiter*innen der Marburger Anti-Gewalt-Projekte Vernetzungsarbeit – dann eben unbezahlt“, weiß Dr. Christine Amend-Wegmann, Leiterin des städtischen Gleichberechtigungsreferats. Diese Akteur*innen in der Vernetzungsarbeit zu unterstützen, ist daher ein weiteres Projektziel. Um diese Projektziele kümmert sich die „Koordinations- & Servicestelle Marburg ohne Partnergewalt“. Sie wird paritätisch von Janis Loewe vom Gleichberechtigungsreferat und Sabine Schlegel von JUKO besetzt. „Wir wollen dazu beitragen, dass eine gemeinsame und umfassende Strategie gegen Partnergewalt in Marburg entsteht“, beschreiben beide den Auftrag.
Drittes Projektziel ist, in zwei Praxisbausteinen die Hilfsangebote für diejenigen, die Gewalt erleiden müssen oder die Gewalt ausüben, weiterzuentwickeln. Diese werden von den jeweiligen Fachleuten von Frauen helfen Frauen und JUKO umgesetzt. Ziel ist eine inklusive Erweiterung der Angebote, um noch mehr Menschen zu erreichen.
Claudia Bergelt, langjährige Mitarbeiterin und Vorstandsfrau von Frauen helfen Frauen, zeigt auf, wie wichtig diese Angebote sind: „Leider gehen viele Frauen davon aus, sie könnten unser Beratungsangebot erst dann in Anspruch nehmen, wenn es bereits zur Eskalation und zu körperlichen Misshandlungen gekommen ist beziehungsweise sie einen Platz im Frauenhaus suchen.“ Dabei sei es wichtig, dass die betroffenen Frauen erste Warnzeichen bereits ernstnehmen und sich an Frauen helfen Frauen wenden. Sarah Sobeczko, dort verantwortlich für den Praxisbaustein, betont: „Das frühzeitige Erkennen einer möglichen Gefährdung bietet die Chance der Veränderung und kann dazu beitragen, eine Gewalteskalation zu verhindern.“ Des Weiteren kümmert sich der Verein um die Schaffung von Second-Stage-Angeboten, individuellen, teilbetreuten Wohnformen für Frauen, die das Frauenhaus verlassen haben.
Carsten Degner ist für JUKO im Projekt verantwortlich für die Arbeit mit Gewalt ausübenden Männern. Er weiß: „Viele Männer machen im STOP-Training erstmals die Erfahrung, dass sie über ihr Gewaltproblem mit uns und den anderen Kursteilnehmern reden können, ohne als schlechte Menschen abgestempelt zu werden“. Den Teilnehmern wird im Training klar vermittelt, dass Gewalt gegenüber der Partnerin nicht akzeptiert wird und dass Verharmlosungen oder Rechtfertigungsversuche nicht hingenommen werden. „Das STOP-Training ist der Ort, an dem sich die Männer intensiv mit ihrem Gewaltverhalten auseinandersetzen müssen. Hier lernen sie Schritt für Schritt, Verantwortung für ihr gewalttätiges Verhalten und für die Folgen ihrer Taten zu übernehmen und alternative Verhaltensweisen zu erarbeiten“.
Die Erfahrung der Fachstellen zeigt, dass sprachliche Hürden und fehlende Orientierung in der deutschen Gesellschaft es vor allem Menschen mit Flucht- und Migrationserfahrung erschweren können, den Zugang zu bestehenden Angeboten zu finden. Außerdem kann es aufgrund der Hürden schwierig sein, angemessen beraten und betreut zu werden. Im Projekt soll nun auch daran gearbeitet werden, die bestehenden Angebote so zu erweitern, dass sprachliche und/oder kulturelle Hürden abgebaut werden.
Das Projekt trägt zur Umsetzung der sogenannten Istanbul-Konvention bei. Diese völkerrechtliche Selbstverpflichtung ist in Deutschland seit Februar 2018 Gesetz. „Wir sind sehr froh und begrüßen es ausdrücklich, dass mit der Istanbul-Konvention ein klares Signal gesetzt wurde, dass Gewalt gegen Frauen und häusliche Gewalt kein Privatproblem ist. Im Gegenteil, es gibt nun die staatliche Verpflichtung, wirkungsvolle Maßnahmen in den Bereichen Schutz, Prävention und Sanktionen zu treffen“, betont Monika Galuschka, langjährige Mitarbeiterin und Vorstandsfrau von Frauen helfen Frauen.
Schließlich ist es erklärtes Ziel von „Marburg ohne Partnergewalt“, die Ergebnisse des Projektes auch auf überregionaler und internationaler Ebene verbreiten. „Unsere gesamtgesellschaftliche Verantwortung, uns klar gegen Gewalt in Partnerschaften zu stellen, hört nicht an nationalen Grenzen auf. Einem globalen Problem müssen wir als internationale Gemeinschaft begegnen“, verweist Dr. Amend-Wegmann auf die internationale Bedeutung des Projekts. Mit Poitiers aus Frankreich und Sibiu aus Rumänien hätten zwei Städtepartner*innen bereits in der Antragstellung ihre Unterstützung und Bereitschaft zur Zusammenarbeit signalisiert, freut sich Oberbürgermeister Dr. Spies. „Als Ergebnis aus jahrzehntelanger Freundschaft und unserem engen Austausch zwischen den Städten können wir uns jetzt gemeinsam auch den Themen widmen, über die in der Öffentlichkeit noch viel zu oft geschwiegen wird.“
Weitere Informationen zum Projekt unter www.marburg.de/MRoP.
Informationen zu den Projektpartner*innen:
Gleichberechtigungsreferat
Das Gleichberechtigungsreferat der Universitätsstadt Marburg arbeitet seit 1986 auf kommunaler Ebene für Geschlechtergerechtigkeit und den Abbau von Geschlechterstereotypen, zum Beispiel in lokalen und regionalen gleichstellungspolitischen Netzwerken. In Arbeitsgruppen zu Gewaltprävention kooperiert es seit Langem mit lokalen Anti-Gewalt-Projekten. Seit März 2017 setzt das Gleichberechtigungsreferat die Europäische Charta für die Gleichstellung um. Bestandteile des Aktionsplans sind Männerarbeit und die Arbeit gegen Partnergewalt. Die gemeinsame Antragstellung ist aus dem Austausch zu diesen Themen und der Zusammenarbeit mit Anti-Gewalt-Netzwerken entstanden.
JUKO Marburg
Der Verein JUKO Marburg ist seit über 30 Jahren ein ausgewiesener Träger der Jugendhilfe mit ambulanten Angeboten für Kinder, Jugendliche und Eltern in Krisensituationen. Als Vorreiter in Hessen konzipierte der Verein vor mehr als zehn Jahren das innovative STOP-Training, ein verhaltensorientiertes Tätertraining gegen häusliche Gewalt. Im Bereich der Täterarbeit und der Arbeit mit Männern verfügt JUKO Marburg daher über ausgewiesene Expertise und Netzwerke, zum Beispiel ist der Verein Mitglied in der Bundesarbeitsgemeinschaft Täterarbeit Häusliche Gewalt.
Frauen helfen Frauen Marburg
Der Verein Frauen helfen Frauen Marburg ist Träger des Marburger Frauenhauses und der Beratungs- und Interventionsstelle gegen häusliche Gewalt. Seit 1981 leistet der Verein unmittelbare Hilfe für von häuslicher Gewalt betroffene Frauen und ihre Kinder. Dies geschieht durch ambulante Beratung und/oder Schutz und Unterkunft im Marburger Frauenhaus. Die Prävention von häuslicher Gewalt gegen Frauen und deren Kinder erfolgt zusätzlich durch Beratung, Öffentlichkeitsarbeit und Zusammenarbeit mit anderen Institutionen sowie die landes- und bundesweite Vernetzung mit weiteren Fachstellen.