„Das ist ein Thema, das uns alle bewegt“, sagte Oberbürgermeister Dr. Thomas Spies zur Begrüßung. Rund 100 Gäste verfolgten die Veranstaltung mit dem Titel „Gutbürger versus Wutbürger“ im Rathaussaal. Spies betonte, dass es Bürgerinnen und Bürgern sowie Kommunalpolitikerinnen und Kommunalpolitikern in Marburg „über alle Grenzen hinweg“ gelinge, eine angemessene Haltung gegenüber Menschen einzunehmen, die vor Krieg, Not und Verfolgung flüchten mussten. 7500 Menschen seien bei der Demonstration gegen Rechtsradikalismus und Rassismus im vergangenen Jahr in der Universitätsstadt auf die Straße gegangen. Auch die Aufnahme von 200 zusätzlichen Geflüchteten sei einstimmig im Stadtparlament beschlossen worden. Der Bundesinnenminister war allerdings nicht auf die Initiative eingegangen – angesichts des in Seenot geratenen Rettungsschiffes „Sea Watch 3“ hatte Marburg zudem angeboten, 32 Flüchtlinge aufzunehmen. „Ich wünschte mir, auch vorbei am Bundesinnenminister Entscheidungen treffen zu können“, sagte Spies.
Dass die Ansichten zur Flüchtlingsfrage bundesweit anders ausfallen, zeigte die repräsentative Umfrage, für die mehr als 2000 Menschen aus ganz Deutschland interviewt wurden. Die Ergebnisse der Studie stellten der Marburger Professor für Makroökonomie, Bernd Hayo, sowie Florian Neumeier vom Ifo-Institut vor. Fragen zum Faktenwissen der Interviewten zeigten, dass es große Lücken gibt. So konnte ein Drittel der Befragten überhaupt nichts zur Anzahl der Asylsuchenden insgesamt (1,2 Millionen), dem Anteil aus muslimischen Ländern (zwei Drittel), dem Anteil an Kriegsflüchtlingen (60 Prozent) oder der Höhe der Kosten geben (einschließlich Unterkunft und Kurse etwa 1000 Euro pro Monat und Flüchtling). Die Zahl der Muslime und die Kosten werden deutlich überschätzt, während die Zahl der Menschen, die vor Krieg und Terror fliehen, unterschätzt wird.
Vergleicht man verschiedene Bevölkerungsgruppen, so die Studie, hängt die Einstellung zu Flüchtlingen vor allem am Wohnort – es gibt große Unterschiede zwischen Ost und West – sowie an der Parteienpräferenz, wobei AfD und Grüne am weitesten auseinanderliegen. Auch der Bildungsgrad und – in geringerem Maß das Geschlecht beeinflussen das Antwortverhalten der Befragten bei dem Thema. Dagegen spielen Einkommen und Alter geringere Rollen.
Nach den Interviews steht die Mehrheit der Befragten einer unveränderten Beibehaltung des Grundrechts auf Asyl kritisch gegenüber. Über mögliche Ursachen dieses Antwortverhaltens gibt die Studie allerdings keine Auskunft.
Im Anschluss lieferte der Leiter des städtischen Fachdienstes Migration und Flüchtlingshilfe, Wolfgang Engler, Zahlen und Fakten zur Situation in Marburg. Seit 2015 hat die Stadt 2240 geflüchtete Menschen aufgenommen. Das entspricht drei Prozent der Bevölkerung. Insgesamt haben von den 77 000 Einwohnern der Stadt knapp 10 000 (13 Prozent) eine ausländische Staatsangehörigkeit. Unter ihnen sind zahlreiche Studierende und Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler.
Unter den Geflüchteten sind 830 alleinlebende Männer, 220 alleinlebende Frauen, 570 Kinder und Jugendliche sowie 240 Familien. 1570 der Geflüchteten haben bereits positive Bescheide, nur 75 sind ausreisepflichtig. Nach den Zahlen des Kreisjobcenters steigt die Zahl der Erwerbstätigen und der Auszubildenden unter den Geflüchteten seit 2018 steil an. Die Voraussetzung dafür schaffen die zahlreichen Deutschkurse an der Volkshochschule, die schon sehr früh und kostenlos belegt werden können: „Um die Integration voranzubringen, sind die Deutschkurse am Wichtigsten“, so Engler. Außerdem werden die Geflüchteten in Orientierungskurse, Praktika und Einstiegsmaßnahmen vermittelt, damit sie möglichst bald eine Arbeit oder Ausbildung starten können.
Eigens eingerichtet wurde das Integrationsportal in der Mauerstraße, wo es Hausaufgabenhilfe, Bewerbungstraining, Kinderangebote, das Café Refugium, Treffen von Migrantenvereinen sowie Deutschkurse gibt. Regelmäßig sind Ombudspersonen vor Ort. Die Stadt hat zudem mit Shérif Korodowou einen eigenen Integrationsbeauftragten, der als Mittler zwischen Verwaltung und Stadtgesellschaft wirkt.