„Eine deutliche Aufbruchsstimmung und ein aktiver Gestaltungswille" zeichne die Sfaxer Zivilgesellschaft derzeit aus, das betonte die Marburger Delegation nach ihrem Aufenthalt vor Ort. Seit der tunesischen Jasminrevolution, Anfang 2011, nehme die Bevölkerung ihr Schicksal zunehmend selbst in die Hand, organisiere und beteilige sich aktiv an der kulturellen und politischen Entwicklung der Stadt.
Seit 1971 verbindet Marburg und Sfax eine lebendige Städtepartnerschaft. Der Anlass für die Universitätspartnerschaft auf Präsidialebene ergab sich durch den Status „Kulturhauptstadt der arabischen Welt", der Sfax von der Arabischen Liga in Kooperation mit der Unesco für das Jahr 1996 verliehen wurde.
Die offizielle Auftaktveranstaltung zur Unterzeichnung der Kooperationsvereinbarung beider Universitäten in Sfax hatten der tunesische Staatsekretär im Hochschul- und Forschungsministerium, Dr. Kahlil Amiri, und der deutsche Botschafter in Tunesien, Dr. Andreas Reinicke, in der naturwissenschaftlichen Fakultät der Universität Sfax eröffnet. Beide wiesen auf das hohe Interesse beider Länder hin, deutsch-tunesische Kooperationen zu stärken. Botschafter Reinicke betonte zudem, dass Tunesien für Deutschland eine sehr bedeutende Rolle spiele und man den bisher erfolgreich verlaufenden Transformationsprozess durch Finanzierung von zukunftsfähigen Projekten weiter aktiv unterstützen werde.
Als Vertreterin der Stadt Marburg sprach Stadtverordnetenvorsteherin Marianne Wölk über die Entwicklung der Städtepartnerschaft. Der Sfaxer Bürgermeister Mabrouk Kossentini berichtete über die Herausforderungen, denen sich die Stadt gegenübersehe, wie die Renovierung der Altstadt, der Neuordnung des Hafens sowie der Verlagerung der chemischen Industrie von der Stadt weg. Für die Universität Sfax sprach Präsident Prof. Dr. Rafik Bouaziz. Als Vertreter der Universität Marburg überbrachte Prof. Dr. Albrecht Fuess, Geschäftsführender Direktor des Centrums für Nah- und Mittelost-Studien (CNMS), das Grußwort von Präsidentin Prof. Dr. Katharina Krause. Einen Tag später wurde diese Kooperation durch die Enthüllung einer Gedenktafel am „Marburg-Platz" noch einmal deutlich unterstrichen.
Im weiteren Verlauf des Aufenthalts haben Vertreterinnen und Vertreter der Städte sowie der Universitäten Gespräche über Kooperationswünsche geführt. Stadtverordnetenvorsteherin Marianne Wölk und der ehrenamtliche Marburger Stadtrat Christian Schombert bekräftigten gemeinsam mit Bürgermeister Kossentini und Dr. Chahir Krichen der Universitätsstadt Sfax den Wunsch nach einer intensiven Zusammenarbeit.
So will Sfax die Co2-Emissionen reduzieren und den Ausbau des Öffentlichen Nahverkehrs erreichen. Hierzu suche man den Austausch mit der Stadt Marburg von vorhandenem „Know How" im Bereich Transport über Öffentlichem Nahverkehr und Energieberatung bis zur Müllentsorgung und zur Errichtung einer Kompostieranlage. Die Deutsche Botschaft erklärte, dass für den Verwaltungsaustausch Mittel der Deutschen Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) beantragt werden können.
Bürgermeister Dr. Franz Kahle, der für die Partnerschaft zwischen Sfax und Marburg zuständig ist, freut sich über die Intensivierung der Beziehungen: „Ich hoffe, dass wir wieder wie vor einigen Jahren einen regelmäßigen Schüleraustausch organisieren können. Daneben würde ein Austausch von Fachleuten aus verschiedenen Bereichen neue Perspektiven der Zusammenarbeit eröffnen."
Die Universitätsstadt Marburg unterstützt Sfaxer Studierende seit 1971 mit regelmäßigen Stipendien. Seitens Sfax wurde angeregt, das Sprachstipendium durch Praktika in der Stadtverwaltung zu ersetzen oder zu erweitern, da die Studierenden aus Sfax sehr gut Deutsch sprechen. Die Marburger Delegation hat Sfaxer Jugendliche zwischen 12 und 14 Jahren zum Six-Nations-Cup 2017 eingeladen und hofft, dass es der Zivilgesellschaft aus Sfax gelingt, wieder Eltern und Jugendliche hierfür zu interessieren.
Auch die Universitätsdelegation konnte sehr viele zukunftsgerichtete Gespräche führen. Am intensivsten gibt es innerhalb der Universitäten bereits seit längerer Zeit Verbindungen in der Informatik. Prof. Dr. Bernd Freisleben entwickelt mit Sfaxer Kollegen Anwendungen im E-Health-Bereich, durch die Patientinnen und Patienten im ländlichen Bereich Tunesiens Kontakt mit ihren Ärzt/innen in der Stadt halten können. Weitere gemeinsame Projekte wurden im Bereich der Physik durch Dekan Prof. Dr. Reinhard Noack, in der Medienwissenschaft durch Prof. Dr. Angela Krewani, und in der Friedens- und Konfliktforschung durch Prof. Dr. Susanne Buckley-Zistel auf den Weg gebracht. Auch für die Vertreterinnen und Vertreter des Centrums für Nah- und Mittelost-Studien (CNMS) der Philipps-Universität Marburg ergaben sich konkrete Ideen in der historischen und politikwissenschaftlichen Forschung, die sich bisher vor allem auf die Hauptstadt Tunis beschränkt, nun aber auf den tunesischen Süden ausgedehnt werden soll. Die tunesische Seite hat die Marburger Delegation mit viel Einsatz und Enthusiasmus begleitet.
Damit aus all diesen vielversprechenden Projektideen auch handfeste Ergebnisse werden, wird sich Christina Bohle vom Internationalen Büro der Philipps-Universität darum bemühen, die passenden Fördermöglichkeiten zu finden. Beginnen wollen beide Universitäten mit einem gemeinsamen Antrag im Rahmen des Erasmus-plus-Programms der EU im Frühjahr 2017.
Hintergrund:
Seit 1971 existiert eine offizielle Städtepartnerschaft zwischen Marburg und der zweitgrößten Stadt Tunesiens, Sfax. Mitinitiator der geschlossenen Vereinbarung war der damalige Marburger Stadtverordnetenvorsteher Gerhard Jahn, späterer Justizminister und Marburger Bundestagsabgeordneter. Zur Feier der Städtepartnerschaft benannten die Stadtoberen der tunesischen Hafenstadt einen zentralen Platz ihrer Stadt nach ihrem Marburg-Partner. Marburgerinnen und Marburger fühlen sich seitdem dort auf der „Place Marburg" (Arabisch: Sahat Marburg) gleich zu Hause. In den letzten Jahrzehnten haben sich bereits zahlreiche Verbindungen und Besuche zwischen der Sfaxer- und der Marburger Stadtgesellschaft ergeben. Die 260.000 Einwohnerinnen und Einwohner der Stadt Sfax leben heute vor allem von der Landwirtschaft (beispielsweise Oliven- und Mandelhaine), der verarbeitenden Phosphatindustrie und dem Handel. In jüngerer Zeit gründeten sich dort auch Technologiefirmen. Seit 1974 entwickelt sich dort auch eine der führenden Universitäten des Landes.