© Thomas Steinforth, Stadt Marburg
„Etwa 17 Prozent der Menschen, die in Marburg leben, haben eine Behinderung. Oder eher: Sie werden darin behindert, gleichberechtigt am gesellschaftlichen Leben teilzuhaben. Das müssen wir ändern. Wie weit wir damit sind und wo es noch Handlungsbedarf gibt, zeigt der Teilhabebericht auf“, erklärt Oberbürgermeister Dr. Thomas Spies. Erstellt wurde der Bericht auf Initiative des städtischen Behindertenbeirats im Auftrag des Magistrats. Er analysiert, was sich seit der ersten Bestandsaufnahme in Marburg verbessert hat. Und er gibt Vorschläge, was noch verbessert werden muss. Das hat die Stadt Marburg nicht alleine analysiert, sondern gemeinsam mit Expert*innen, mit Menschen mit und ohne Beeinträchtigungen. „Das Besondere und Wichtige ist, dass Fachleute und Menschen, für die unser Teilhabebericht und die daraus resultierenden Ideen eine direkte Auswirkung auf das alltägliche Leben haben, hier mitreden. Sie haben ihr Wissen eingebracht und einen anderen Blick auf die Strukturen unserer Stadt gegeben“, so Spies.
Gemeinsam mit der Arbeitsgruppe und der Sozialplanerin Monique Meier hat das Stadtoberhaupt die Bestandsaufnahme nun vorgestellt. Es sind viele kleinere und große Bausteine, die Teilhabe ermöglichen: An Marburger Schulen gibt es immer wieder Baumaßnahmen, etwa mit dem Bau einer barrierefreien Küche an der Sophie-von-Brabant-Schule oder einem Fahrstuhl am Hauptgebäude der Adolf-Reichwein-Schule. Die Richtsberg Gesamtschule stellt vor, wie sie sich auf den Weg zu einer „Schule für Alle“ macht und wie Digitalisierung und Individualisierung des Unterrichts dabei hilft.
Einen Beitrag zur Teilhabe liefert das Lebenshilfewerk unter anderem mit einem jährlichen Bildungs- und Kulturkatalog, in dem inklusive Bildungsangebote, Freizeitmöglichkeiten und Reisen zusammengefasst sind. Rund 700 barrierearme und teilweise barrierefreie Wohnungen sind in Marburg zudem in den letzten drei Jahren entstanden. Allerdings können laut Bericht nicht alle Bestandsgebäude und Wohnungen komplett barrierefrei umgebaut werden. Aber: Die Nachfrage nach barrierearmen Wohnungen steigt. Hilfe gibt es bereits bei dem Pflegebüro der Stadt Marburg, das eine individuelle Wohnberatung anbietet. Die Musikschule baut ihr Angebot für Menschen mit Beeinträchtigungen Schritt für Schritt aus und plant das Musizieren mit Menschen im höheren Lebensalter. Das inklusive Straßentheater-Projekt „Hürdenlauf“ hatte großen Zuspruch gefunden. Die Stadt Marburg übernimmt bereits seit mehr als 20 Jahren die Kosten für Gebärdendolmetscher*innen, wenn Gehörlose mit der Stadt kommunizieren oder an Veranstaltungen teilnehmen.
Angeregt wird im Bericht beispielsweise, möglichst viele barrierefreie Wohnungen in den Erdgeschossen zu bauen – da Aufzüge ausfallen können und das sonst einen „Hausarrest“ für Bewohner*innen bedeuten könne. Wichtig seien auch niedrigschwellige Zugänge zu gesundheitlicher Versorgung, Trainings für Fahrplanlesen, induktive Höranlagen in Veranstaltungsräumen oder der zunehmende Einsatz von leichter oder einfacher Sprache.
„Durch die Mitarbeit so vieler Beteiligter haben wir wertvolle Impulse aus persönlichen Erfahrungen bekommen“, berichtete Meier. „Diese Ideen und die Ansätze aus dem Bundesteilhabegesetz müssen wir nun alle gemeinsam entwickeln und mit Leben füllen. Dafür ist der Teilhabebericht als Spiegel der bisherigen Arbeit eine gute Hilfe“, ergänzte Sven D. Jerschow von der Agentur für Arbeit.
In Zusammenarbeit haben Menschen mit Beeinträchtigungen, Institutionen, Vereine, Selbsthilfegruppen, die Philipps-Universität und verschiedene städtische Fachdienste umfangreiche Informationen auf 345 Seiten zusammengestellt. Der Arbeitskreis und viele Gäste haben eineinhalb Jahre an dem Bericht gearbeitet. Bernd Duve-Papendorf vom Sozialverband VdK stellte fest: „Ich habe bei der Arbeit an dem Bericht großartige Menschen kennengelernt, die sich auf sehr unterschiedliche Weise mit ihren Kompetenzen und Talenten einbringen. Die größte Stärke des Berichtes ist meiner Ansicht nach die Vielfalt“. Wie vielfältig die Mitwirkenden sind, ist im Anhang des Berichts aufgeführt. Beteiligt haben sich etwa Schulen, der Stadtelternbeirat, die Evangelische Familienbildungsstätte, das Diakonische Werk, die BI Sozialpsychiatrie, der Verein Leben mit Krebs und viele mehr.
Befragung „Teilhabe in Marburg“
Um ein Meinungsbild von Menschen mit Beeinträchtigungen zu erhalten, hat die Philipps-Universität Marburg eine begleitende Befragung durchgeführt und nach Verbesserungswünschen für die Stadt Marburg gefragt. Dr. Carolin Tillmann vom Institut für Erziehungswissenschaften: „Die Beteiligung von Marburger*innen mit Beeinträchtigungen ist ein wichtiger Bestandteil des zweiten Teilhabeberichts. Zudem wurde die Teilhabe von Menschen mit chronischen Krankheiten und unsichtbaren Beeinträchtigungen stärker als bisher thematisiert.“ Ein wegweisendes Zitat aus einem der anonymisierten Interviews lautet: „Mein Traum ist es, dass man nicht sagt: Das ist der Behinderte und das der Normale.“
Rund 13.000 Marburger*innen sind betroffen
Für den Bericht wurden Zahlen und Statistiken zusammengestellt. Demnach haben 12.990 Menschen in Marburg eine leichte oder schwere Behinderung. Das entspricht 16,8 Prozent der Bevölkerung, 11,5 Prozent aller Marburger*innen sind schwerbehindert. Rund 80 Prozent aller Menschen mit einer schweren Behinderung sind mehr als 50 Jahre alt und die Behinderungen werden meist im Laufe des Lebens, beispielsweise durch Krankheit verursacht. Laut dem Hessischen Statistischen Landesamt wird in Marburg am häufigsten eine Beeinträchtigung der Funktion von inneren Organen verzeichnet. Dies ist auch hessenweit die häufigste Behinderungsart.
Leichte Sprache
In den einzelnen Kapiteln zeigen Leitideen in Leichter Sprache auf, welche Zielrichtung in Marburg gesetzt wird. Tanja Luft von der AG „Leichte Sprache“ hat den Erarbeitungsprozess des Berichtes eng begleitet und auch als Rollstuhlfahrerin zahlreiche Anregungen und Verbesserungsvorschläge eingebracht.
Den Bericht gibt es zum Download unter www.marburg.de/teilhabe. Weitere Informationen oder Anforderung einer gedruckten Ausgabe des Berichtes bei Monique Meier vom Fachdienst Soziale Leistungen, (06421) 201-1933, monique.meier@marburg-stadt.de
Weitere Zitate von Teilnehmenden der Arbeitsgruppe
„Meine Perspektive ist die strukturelle. Ich bin gespannt, wie sich die Angebotslandschaft für Menschen mit Beeinträchtigungen noch weiter verbessern wird“, Peter Schmidt, Fachbereichsleiter Arbeit, Soziales und Wohnen.
„Ich finde es besonders bereichernd, dass wir mit dem Bericht positive Erfahrungen von Betroffenen an die Öffentlichkeit bringen können“, Heike Klewinghaus, Angebot „Raus ins Leben“ der Stadt Marburg.
„So viel Engagement, wie in dieser Projektgruppe, habe ich wirklich selten erlebt“, Kerstin Hühnlein, Fachdienst Soziale Leistungen.
„Für mich ist der Stellenwert der persönlichen Erfahrungen das Besondere am Zweiten Teilhabebericht“, Sabine Failing, Epilepsie-Selbsthilfegruppe Marburg.
„Wichtig ist es, alle gesellschaftlichen Gruppen wie etwa Arbeitgeber*innen und Vereine in die Betrachtung miteinzubeziehen, um ganzheitlich Verbesserungen für Menschen mit Beeinträchtigungen zu schaffen“, Dr. Bernhard Conrads, Freunde des Museums für Kunst und Kulturgeschichte Marburg.
„Wir als BSF haben einen inklusiven Anspruch, das bedeutet auch, die Menschen nicht anhand ihrer Beeinträchtigungen einzuordnen. Durch jeden neuen Kontakt lernt man immer wieder dazu“, Pia Tana Gattinger, Bewohnernetzwerk für Soziale Fragen.
„Für mich als Vertreter der Agentur für Arbeit ist es wichtig, die Entwicklungen für Menschen mit Beeinträchtigungen hautnah mitzuerleben, um unsere Fördermöglichkeiten auch danach auszurichten“, Sven D. Jerschow, Agentur für Arbeit.
„Unser Grundsatz ist: Jeder Mensch ist musikalisch. Deswegen wollen wir unsere Angebote auch für Jede*n zugänglich machen“, Eugen Anderer, Musikschule Marburg.
„Das Wissen der Expert*innen bei der Erarbeitung des Zweiten Teilhabeberichtes führte dazu, dass mir einmal mehr bewusstwurde, dass mit Sport und Kultur die Vielfalt unserer Gesellschaft durch gleichberechtigte Teilhabe möglich ist und pragmatisch umgesetzt werden kann“, Hilde Rektorschek, BC Basketball Club, Handicap-Basketball-Team.
„Der Teilhabebericht hat Beeinträchtigungen sichtbar gemacht, die zuvor weniger Beachtung gefunden haben. Ich bin gespannt, was sich auf den Bericht aufbauend ergeben wird“, Roland Böhm, Mitglied des Behindertenbeirats.