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Luther & Philipp
„Predige du, Luther, so will ich derweil sehen, dass man die Pferde sattle.“
Als im Januar 1521 der 16-jährige Philipp, Erbe der kürzlich wiedervereinigten Landgrafschaft Hessen, mit 400 gerüsteten Reitern und fast 200 Adligen und Bediensteten von der Stammburg seiner Dynastie hoch über Marburg aufbrach zum Reichstag in Worms – zu seinem ersten reichsöffentlichen Auftritt und seiner feierlichen Belehnung durch Kaiser Karl V. –, hatte er sich selbst einen „Denkzettel“ geschrieben. 26 Punkte hatte er notiert und abgehakt. Punkt 17 bis 19 lauteten:
„Item zu gedencken, wie ich es mach in meinem land, das frid und recht gemacht werde“
„Item zu gedencken, das ich feste hus mach in meinem land"
„Item zu gedencken ein danksagung got“. Die „Luthersache“ stand nicht auf dem Zettel.
Vier Monate später aber, am 17. und 18. April, erregte der zum Widerruf vor den Reichstag geladene Luther größtes Aufsehen durch seine (fast) unerschrockene Standhaftigkeit. Neugierig suchte der junge Fürst ihn – mit eher merkwürdigen Fragen – in seinem Quartier auf. „Wenn Ihr recht habt, Herr Doktor, so helfe Euch Gott!“ soll er beim Abschied gesagt haben. Und befand mit wenigen anderen Fürsten, dass das für Luthers Anreise nach Worms garantierte Freie Geleit auch für die Heimreise des nun Gebannten und Geächteten gelten müsse.
Mit seinem Geleitbrief, ausgestellt in Worms am 26. April 1521, und einem Dankesbrief seines Kanzlers Johann Feige an Luther für Brief und Druckschrift schon im März (!) beginnt die Sammlung Philipps von mehr als hundert Briefen an, von und über Luther. Sie liegt im Staatsarchiv Marburg.
Drei Jahre später, in der Polizeiordnung vom 18. Juli 1524, gebot er den Pfarrern, dass sie „das volck im Evangelio und der Lehre Christi, unsers Erhalters und seligmachers, lauter und rein, treulich und christlich underrichten sollten“. Diese Verfügung wurde in Wittenberg gedruckt und auch von Luther als Freigabe der Verkündigung seiner Lehre in Hessen verstanden. Melanchthon schrieb im September 1524 „Eine Summa der Christlichen Leer … an den Landgrafen von Hessen“.
Damit war der Anschluss des Hessenfürsten an die neue Lehre publik. Zum nächsten Reichstag in Speyer 1526 trug schon sein Gefolge wie das des sächsischen Kurfürsten die reformatorische Parole VDMIAE auf den Ärmelaufschlägen (Verbum Domini Manet In Aeternum - Das Wort des Herrn bleibt in Ewigkeit). Und sofort nach der dort erkämpften Aufhebung des Wormser Edikts nutzte er die zugesagte Entscheidungsfreiheit zur Vorbereitung der Reformation Hessens.
Nun beginnt mit Philipps Frage- und Luthers (und Melanchthons) Antwort-Briefen die zwanzig Jahre währende komplizierte Beziehung zwischen dem geistlichen Haupt und dem politischen Kopf des deutschen Protestantismus gegen Papst und Kaiser. Luthers Beratung und Begutachtung vor und nach der Homberger Synode Oktober 1526 und zur Universität hat Philipp gesucht und befolgt. Für seine Bündnispläne der 1530er Jahre hat er – nicht nur, aber am eindrücklichsten durch das Marburger Religionsgespräch 1529 – um Luthers Zustimmung gerungen. Und den verhängnisvollen Schritt zur Doppelehe 1539/40 hat er erst mit Luthers Einwilligung im „Wittenberger Ratschlag“ vom 10. Dezember 1539 gewagt.
Die auf seinem Denkzettel für Worms 1521 noch nicht notierte „Luthersache“ hatte ihn zu intensivem Lesen der Bibel und der reformatorischen Schriftenflut veranlasst. Seine daraus erwachsene persönliche Entscheidung für den Prediger des „Evangeliums lauter und rein“ passte auch gut in sein Konzept, „das in meinem land frid und recht gemacht werde“, „das ich feste hus mach in meinem land“. Er konnte Luthers Autorität in Anspruch nehmen, um sich reichspolitisch zu behaupten.
Nach der Wiedereinsetzung des Wormser Edikts beim Reichstag in Speyer 1529 „protestierte“ er nicht nur (19. April). Unter der Devise „Wir, die wir uns evangelisch nennen, werden uns nunmehr nicht voneinander trennen, wir wären denn toll, unsinnig oder gar rasend“ lud Philipp sofort die Luther'schen mit den Zwingli'schen an einen Tisch. Luther lehnte das zwar aufs Schärfste als aussichtslos und sogar gefährlich ab und weigerte sich zu kommen. Aber er gestand zu: „Jener Jüngling aus Hessen ist umtriebig und lodert mit Plänen“. Und „weil jener hessische Macedonier unserem Fürsten so in den Ohren gelegen hat“ muss Luther sich doch in einen neuen Anzug stecken, nach Marburg kutschieren und sich auch noch seine Unterschrift unter die 15 Marburger Artikel abringen lassen!
Philipps zielstrebige Hartnäckigkeit, die Bereitschaft des Großmütigen, dem dringend notwendigen Bündnis zuliebe theologische Unterschiede auf einer gemeinsamen „Mittelstraße“ „friedlich und freundlich“ zu ertragen, erregten in Luther teils Ärger und Misstrauen, teils Bewunderung und Hoffnung. Über 50 mal erscheint „der Landgraf“ in seinen Tischreden: „Wie ein Stallbub benahm sich der Landgraf“ beim Religionsgespräch, eben wie ein unreifer, ungebildeter junger Mann, „und wischte leichthin die schwierigsten Probleme vom Tisch, wie es die Art großer Herren ist“.
Ganz anders sprach Luther über Philipp beim Augsburger Reichstag 1530: Damals hätte „der Landgraf des Kaisers und des Papstes liebster Sohn werden können, aber er wollte nicht“. Vielmehr wurde der unverzichtbare Schirmherr der guten Sache, der Wort- und Heerführer des Protestantismus, „ein Kriegsmann, wahrlich ein Arminius, an Rang und Würden gering und dennoch mächtig durch seine politische Klugheit und sein ihm treues Glück“. Philipp war nun der kleine deutsche Fürst, der seinen mutigen Kampf gegen das weltbeherrschende Rom nicht von Bedenklichkeiten der Theologen abhängig macht: „Herr Doktor, Ihr ratet wohl fein, wie aber, wenn wir Euch nicht folgten?“ Und: „Predige du, Luther, so will ich derweil sehen, dass man die Pferde sattle.“
Diese Beziehung überwand auch die Krise nach der Nicht-Geheimhaltung des Wittenberger Beichtrats zur Doppelehe. Der letzte Brief des Landgrafen an Luther vom 12. März 1545 begleitete die Übersendung eines italienischen Berichts, wonach beim Tode Martin Luthers seine Verbindung mit dem Teufel sich gezeigt hätte, und endet: „Hoffen, es soll Euer leben lang seyn.“
Schon knapp ein Jahr später schrieb Philipp zum Tod des Reformators an Kurfürst Johann Friedrich von Sachsen: „Dieweil … unser Herrgott das Seine durch ihn ausgerichtet, hat er ihn also in frieden hin und zu sich nehmen wollen“; vorausahnend fügte er hinzu: “und ihn vielleicht die Verfolgung … nicht sehen lassen wollen“. Den Fußfall seines vom Kriegsglück dann doch verlassenen „wahren Arminius“ vor Kaiser Karl V. am 19. Juni 1547 in Halle hat Luther nicht mehr erleben müssen.
Renate Lührmann