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Steckbriefe "Klasse Kampf - '68 erinnern"
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Elisabeth Abendroth (Jg. 1947) kam schon als Vierjährige mit ihren Eltern nach Marburg, als ihr Vater als Professor für Politische Wissenschaft an die Philipps-Universität berufen wurde. In Marburg ging sie zur Schule, begann sie das Studium der Kunstpädagogik, Politologie, Soziologie, Philosophie und des Öffentlichen Rechts; hier lagen auch die Wurzeln ihres politischen Engagements. U. a. war sie schon als 15-jährige Schülerin reguläres Mitglied des Marburger SDS (Sozialistischer Deutscher Studentenbund) und 1968 in verschiedenen linksgerichteten Organisationen wie der AgF (Arbeitsgemeinschaft für gewerkschaftliche Fragen) aktiv. Obwohl sie auch später immer wieder in Marburg wohnte, ist ihre emotionale Beziehung zur Lahnstadt bis heute nachhaltig durch die „Ausgrenzungs- (und z. T. auch Bedrohungs-)Erlebnisse in der Marburger Stadtgesellschaft der fünfziger und sechziger Jahre“ geprägt.
1968 sieht sie im Rückblick als eine Bewegung, die „die bis dahin noch sehr verknöcherte, verspießerte, postnazistische BRD-Gesellschaft gehörig durchgerüttelt, demokratisiert und modernisiert“ hat. Als besonders positiv erinnert sie „die Lockerung der Lebensformen“, z. B. in den entstehenden WGs und „einen etwas freieren Umgang mit der Sexualität“, den die Pille den Frauen ermöglichte. Negativ bewertet sie aber die Tatsache, dass die 68er-Männer sich dadurch endgültig aus der Verantwortung für die Verhütung zurückzogen und die Frauen allgemein nur „als hübsche Gehilfinnen“ betrachteten. Besonders negativ sind ihr „die z. T. hasserfüllten Reaktionen der Mehrheitsgesellschaft auf uns“ im Gedächtnis geblieben.
Annegret Ehmann studierte ab 1963 Anglistik, Geschichte, Politik, Philosophie und Pädagogik in München und Frankfurt. Im Mai ‘68 (!) legte sie das Lehramts-Staatsexamen an der damals im Zuge der studentischen Besetzung kurzfristig in „Karl-Marx-Universität“ umbenannten früheren/späteren Goethe-Universität in Frankfurt ab. Nach Marburg kam sie 1969 als damals bundesweit erste und mit 24 Jahren auch jüngste Pressereferentin der Philipps-Universität. Die unmittelbaren Folgen der Studentenproteste in Marburg, der Institutsbesetzungen und der Novellierung des Hessischen Hochschulgesetzes, mit dem die Ordinarienuniversität abgeschafft wurde, erlebte sie – u. a. durch ein von ihr geführtes Interview mit dem damaligen Kultusminister Ludwig von Friedeburg und durch ihre Eheschließung mit dem ehemaligen Marburger AStA-Vorsitzenden Christoph Ehmann – aus nächster Nähe.
1968 betrachtet sie heute als „die wichtigste Zeit meiner persönlichen Entwicklung und politischen und kulturellen Orientierung“. Als besonders positiv erinnert sie die Auslandsreisen einer internationalen studentischen Theatergruppe, der sie in Frankfurt angehörte. Negativ ist ihr in Erinnerung, dass eine ebensolche Reise nach Nordafrika durch Intervention des Auswärtigen Amtes verhindert wurde, weil die Studierenden dort ein Stück von Ernst Toller aufführen wollten.
Christoph Ehmann war 22 Jahre alt, als er 1965 in Marburg das Studium der Politischen Wissenschaften, der Soziologie und des Völkerrechts aufnahm. Schon im Wintersemester 1965/66 wurde er stellvertretender AStA-Vorsitzender. 1966 übernahm er auch den Vorsitz des hessischen Landesverbandes des VDS (Verband Deutscher Studentenschaften) und setzte z. B. gegen den heftigen Widerstand der Rektoren durch, dass den Studierenden in ihrer Gesamtheit überhaupt der Status einer Körperschaft des öffentlichen Rechts zuerkannt wurde. 1967 wurde er zum Marburger AStA-Vorsitzenden gewählt, im April 1968 wechselte er als Bundesvorsitzender des VDS nach Bonn. Als sozusagen ‚oberster deutscher Student‘ war er einer der wichtigsten Protagonisten der Studentenbewegung, musste sich in dieser, seiner „intensivsten Lebenszeit“ aufgrund seiner vielen Ämter, aber auch vom Studium beurlauben lassen und hatte „am Ende zwei Magengeschwüre“.
1968 sah er später als „bürgerliche Protestbewegung“, die „die bürgerliche Demokratie nicht überwinden, sondern realisieren“ wollte. Als ihren eigentlichen Erfolg und ihre legitime Fortsetzung bezeichnete er die zahlreichen Bürgerinitiativen der 1970er Jahre und deren Fernwirkungen in die Parteien und Gewerkschaften hinein. Als negativstes Erlebnis erinnert er das „Marburger Manifest“ und eine Klage von acht der 23 Erstunterzeichner gegen ihn als AStA-Vorsitzenden, die erst 1972 vom Oberlandesgericht Frankfurt letztinstanzlich abgewiesen wurde. Positiv ist ihm ‚im Gedächtnis geblieben‘, dass er in Marburg 1969 seine heutige Frau Annegret Ehmann, damals die erste Pressereferentin der Philipps-Universität, kennenlernte.
Hans Eichel kam als 20-jähriger Student der Germanistik, der politischen Wissenschaften, Soziologie, Philosophie und Pädagogik 1961 nach Marburg. Das Jahr 1968 erlebte er bereits im Übergang vom Studenten in Marburg zum Lehramtsreferendar in Kassel. Später war er als Gymnasiallehrer, Oberbürgermeister von Kassel, Ministerpräsident von Hessen und Bundesfinanzminister tätig. In Marburg begann sein „Marsch durch die Institutionen“, zunächst als Jungsozialist in der innerparteilichen Opposition der SPD, speziell 1968 und in Kassel aber auch als Mitanführer von Demonstrationen gegen die Notstandsgesetze und gegen die Niederschlagung des „Prager Frühlings“.
1968 markiert für ihn heute vor allem das Ende des Schweigens über die NS-Zeit und deren Aufarbeitung, aber auch den Beginn einer lebendigen Demokratie. Als besonders positiv erlebte er die intensiven studentischen Debatten und das politische Engagement so vieler junger Menschen. Negativ bewertet er den späteren Rückzug vieler politisch Enttäuschter „ins Private“ sowie die kleinstädtische, vorwiegend akademisch geprägte Atmosphäre Marburgs, der er u. a. durch eine damals entwickelte Vorliebe für politisches Kabarett (Wolfgang Neuss) und politische Liedermacher wie Wolf Biermann und Franz-Josef Degenhardt begegnete.
Georg Fülberth war 26 Jahre alt, als er 1965 nach Marburg kam und hatte den größten Teil seines Studiums (Germanistik und Geschichte) da bereits hinter sich. Ab 1967 war er vier Jahre lang wissenschaftlicher Assistent bei Wolfgang Abendroth, ehe er zum wissenschaftlichen Rat avancierte und von 1972 bis 2004 eine Professorenstelle am politikwissenschaftlichen Institut versah. Während dieser Zeit war er auch ein führendes Mitglied in der Marburger DKP. Er lebte zeitweise in derselben WG wie Gerlinde Griepenburg-Burow und war 1968 ebenfalls im SDS (Sozialistischer Deutscher Studentenbund) und der ASO (Arbeitsgemeinschaft Sozialistische Opposition) aktiv – unter anderem bei der Osterblockade des Springer-Verlages in Frankfurt.
1968 betrachtet er im Rückblick als „Vorbereitung zu Wichtigerem“, insbesondere der Universitätsreform ab 1970, aber auch dem Aufstieg des MSB Spartakus und der DKP in den 1970er Jahren. Besonders positiv sind ihm die Personen Wolfgang Abendroth und Rudolf Zingel (damaliger Direktor der Universitätsverwaltung) sowie die Auseinandersetzung mit Oberbürgermeister Gassmann und dem Bundestagsabgeordneten Gerhard Jahn (beide SPD) im Gedächtnis geblieben. An besonders negative Erlebnisse im damaligen Marburg kann er sich nicht erinnern.
Wolfgang Gerhardt kam 1963 nach seinem Abitur in Alsfeld nach Marburg, um ein Lehramtsstudium der Fächer Erziehungswissenschaften, Germanistik und Politik zu beginnen. 1970 schloss er seine Promotion mit einer Dissertation über die Bildungspolitik der FDP nach 1945 erfolgreich ab. Das Jahr 1968 erlebte er in der Hochphase seiner Marburger Studienzeit. Bereits seit 1965 war er im Liberalen Studentenbund Deutschland sowie im Studierendenparlament aktiv. Aufgrund dieser Tätigkeit war er in große Teile der politischen und gesellschaftlichen Ereignisse Marburgs im Jahr 1968 involviert. Er nahm beispielsweise an der ersten angemeldeten Demonstration in Marburg überhaupt – damals gegen die Notstandsgesetze – teil. Es folgte eine Vielzahl politischer Tätigkeiten innerhalb der Marburger FDP, die ihm einen detaillierten Einblick in die Entwicklungen seiner Zeit ermöglichten. Nach seiner Promotion setzte er diese auf Landes- und Bundesebene weiter fort und begann – wie viele seiner damaligen Kommilitonen – den Marsch durch die Institutionen. Dieser begann 1970 mit einer Referentenstelle im Hessischen Landtag und führte ihn bis in den Bundestag.
Rückblickend hat ihn das Jahr 1968 gelehrt, dass man die Welt nicht von jetzt auf gleich nach eigenen persönlichen Vorstellungen ändern kann. Egal wie löblich die Absichten auch sein mögen: Gesellschaftliche Veränderung ist ein sukzessiver Prozess.
Gerlinde Griepenburg-Burow, damals Gerlinde Griepenburg, kam 1963 als 19-jährige nach Marburg, um Deutsch, Französisch und Pädagogik zu studieren. 1968 waren ein Kind und zwei weitere Studienfächer (Politik und Soziologie) hinzugekommen. Sie lebte in einer der ersten Marburger WGs, war als Mitglied des SDS (Sozialistischer Deutscher Studentenbund) und anderer Organisationen (z. B. AgF (Arbeitsgemeinschaft für gewerkschaftliche Fragen), ASO (Arbeitsgemeinschaft Sozialisitische Opposition)) an vielen Aktionen der „Studentenbewegung“ beteiligt und gehörte wenig später zu den Mitbegründerinnen des ersten Marburger Kinderladens. Nach Tätigkeiten (Lehraufträge, Tutorien) am politikwissenschaftlichen Institut in Marburg war sie 34 Jahre lang Gymnasiallehrerin in Hannover.
1968 sieht sie heute als eine Zeit der Suche nach politischen Alternativen zum Denken der damaligen Elterngeneration, aber auch nach alternativen Lebensformen, insbesondere durch die Veränderung der starren Männer- und Frauenrollen. Als besonders positiv erinnert sie die Solidarität unter SDS-Mitgliedern – auch bei Renovierungen und anderen Alltagsproblemen. Negativ bewertet sie im Rückblick eine gewisse Tendenz zur Selbstüberschätzung und Überheblichkeit, die dann zu den ideologischen Verhärtungen in den sog. K-Gruppen und bis hin zum Mobbing gegenüber Andersdenkenden und auch gegenüber ehemaligen Weggefährten führte.
Wolfgang „Harry“ Hecker kam mit 19 Jahren nach Marburg und studierte ab 1966 Politikwissenschaft, Soziologie, Volkswirtschaftslehre und Neuere deutsche Literatur. Zwei Jahre später war er nicht nur SDS-Mitglied, sondern auch Chefredakteur der damals bedeutendsten Marburger Studentenzeitung, der „marburger blätter“. In dieser Funktion erlebte und kommentierte er die meisten politischen Aktivitäten der Marburger Studentenrevolte hautnah, fand aber auch Zeit für kulturelles Engagement im Club Voltaire und in einer französischen Theatergruppe. 1976 wurde er als DKP-Mitglied mit einem Berufsverbot belegt, war aber später in diversen Funktionen an der Philipps-Universität tätig; u. a. als Studiendekan des FB Gesellschaftswissenschaften und Philosophie sowie als Stellvertretender Personalratsvorsitzender.
1968 war für ihn „so schnell vorbei“, denn er bewertet diese Zeit im Rückblick als spannend und positiv, wenn auch „oft naiv“. Besonders hebt er dabei die spontane Bereitschaft auch zu provokanten Aktionen hervor und erinnert die ‚politische Schaltzentrale‘ im Schwarzen Walfisch mit den Wirtsleuten Schönebeck und dem Kellner Ulli als skurril. Sein Exponat ist eine Tisch-Uhr, die er 1968 persönlich zur „Enteignet-Springer-Maschine“ umbaute.
Hubert Hetsch wurde 1948 in Marburg geboren und besuchte hier die Kaufmännische Berufsfachschule und das Abendgymnasium. Die 68er-Phase erlebte er als Schüler, arbeitete aber auch bereits als Filmvorführer. Seit mehr als vier Jahrzehnten ist er Theaterleiter der Filmkunsttheater am Steinweg, deren anspruchsvolles Programm in dieser Zeit auch für viele Generationen von Studierenden zu einer Marburger Institution geworden ist.
1968 beurteilt er im Rückblick als „gut, kritisch und wichtig“ und erinnert sich besonders an die Auseinandersetzung um die politische Lage in der BRD und den Protest gegen den Vietnamkrieg. Das Jahr markiert für ihn persönlich aber auch den Beginn einer lebenslangen Beschäftigung mit dem Werk Stanley Kubricks, den er bis heute als den seltenen Glücksfall eines Philosophen betrachtet, der Filmemacher wurde. „2001 – Odyssee im Weltraum“ sah er z. B. schon bei der Erstaufführung 1968 in London – und noch immer ist dieser Meilenstein der Filmgeschichte fester Bestandteil des von Hubert Hetsch ins Leben gerufenen Open Air-Sommerprogramms auf der Schlossparkbühne.
Helge-Ulrike Hyams (Jg. 1942) kam 1962 von Bremen nach Marburg, um Germanistik und Romanistik auf Lehramt zu studieren. Nach der Enge ihrer Schulzeit empfand sie das Leben in Marburg als befreiend. Ein Wechsel zu den Hauptfächern Erziehungswissenschaften und Soziologie vertiefte dieses Grundgefühl. Vor allem durch die Aufbruchsstimmung um Prof. Wolfgang Klafki, für den sie bald auch arbeitete. Obwohl sie bereits sehr früh im Studium das erste Mal Mutter wurde, fand sie darüber hinaus auch noch Zeit, sich unter anderem im Club Voltaire zu engagieren. 1972 promovierte sie und erhielt einen Ruf als Professorin für Erziehungswissenschaften nach Bremen. 1979 gründete sie zusammen mit ihrem zweiten Ehemann Charles Barry Hyams das „Marburger Kindheitsmuseum“, das bis 2009 bestand.
1968 betrachtet sie heute als „biografisch wichtig und gesellschaftlich notwendig“. Die Quintessenz der unter dieser Chiffre zusammengefassten Bewegungen besteht für sie insbesondere im Brechen des Schweigens über die NS-Vergangenheit und im Hinterfragen und Verändern der verkrusteten gesellschaftlichen Strukturen im Nachkriegsdeutschland.
Wolfgang Richter wurde 1952 geboren und wuchs in Cappel bei seiner Mutter auf. Er besuchte zuerst die Martin-Luther-Schule und wechselte danach auf das Gymnasium Steinmühle, wo er durch motivierte Lehrkräfte das erste Mal – in Form von Lesekreisen etc. - mit den maßgeblichen politischen Diskursen der Zeit in Berührung kam. Hier erlebte er den politischen Umschwung der Jahre 1967/68 unmittelbar: als Mitorganisator des Schülerstreiks gegen die Notstandgesetze. Nach seinem Abitur begann er in Marburg ein Lehramtsstudium der Fächer Germanistik und Sport. Während dieser Zeit war er als Discjockey bereits in der Marburger Kneipenkultur unterwegs. Vor allem im – 1968 neu gegründeten – Jugendhaus Compass war er in dieser Tätigkeit aktiv, aber auch in anderen wichtigen Institutionen der Zeit wie z. B. dem Club Voltaire.
Offenbar stark geprägt durch diese Erlebnisse begann er nach dem Studium eine berufliche Laufbahn als selbständiger Gastronom mit wechselnden Projekten (Café Barfuß, Divan, Caveau, Hinkelstein, etc.).
Das Jahr 1968 beschreibt er retrospektiv als eine schöne Zeit – ihm ist jedoch auch bewusst, dass man die Vergangenheit immer verklärt sieht. Dennoch erinnert er sich an eine schöne Jugend, viele Freiheiten und gute Freundschaften. Sie waren die erste Generation ohne Krieg und erlebten einen wirtschaftlichen Aufschwung, der so stark war, dass Betriebe an die Schulen kamen, um dort Auszubildende anzuwerben.
Claus Schreiner kam 1961 noch vor dem Mauerbau nach Marburg und machte drei Jahre später am Gymnasium Philippinum sein Abitur. Schon während der Schulzeit gründete er eine Schülerzeitung, die neben der Mitverwaltung („Milchflaschen einsammeln“) auch die Mitverantwortung der Schüler forderte. Neben dem Studium der Soziologie, Politik und Psychologie widmete er sich ab 1964 seiner Leidenschaft, der Musik. Als Jazzmusiker, Konzertveranstalter und Künstler-Manager brachte er Jazz, Pop und Folklore-Musik nach Marburg. Ohne Mitglied im SDS (Sozialistischer Deutscher Studentenbund) oder der ASO (Arbeitsgemeinschaft Sozialisitische Opposition) zu sein, organisierte er auch einen wesentlichen Teil des Musikprogramms im Club Voltaire und war auf diese Weise in die linke Studierendenszene involviert.
1968 und der rituellen Politisierung z. B. auch völlig unpolitischer Konzerte im Audimax stand er schon damals kritisch gegenüber. Als besonders unangenehm erinnert er die gelegentlich sogar mit Fahrradketten und Radau ‚unterstrichene‘ Forderung radikaler Spontis nach einer „kostenlosen Kultur für alle“, die Künstler und Veranstalter natürlich existenziell bedrohte. Aber eben auch an die Rundbriefe der sozialistischen Hausherren im Club Voltaire, die alle mit „Liebe Genossen, lieber Claus …“ begannen.
Franziska Wiethold kam mit 19 Jahren nach Marburg, um hier von 1965 bis 1972 Soziologie und Politikwissenschaft zu studieren. Mit Studienbeginn trat sie in den SDS (Sozialistischer Deutscher Studentenbund) ein, saß von 1966 bis 1968 im Studentenparlament und lebte „in verschiedenen Studentenbuden“. Schon Ende 1966 wurde ihr im Studentendorf wegen „Erregung öffentlichen Ärgernisses“ fristlos gekündigt, weil sie in ihrem Zimmer unbekleidet mit einem jungen Mann im Bett lag und von einer Hauswirtschaftslehrerin ‚ertappt‘ wurde. Der Fall geriet bundesweit in die Schlagzeilen, weil es damals noch als „Kuppelei“ galt und strafbar war, wenn eine Vermieterin oder ein Vermieter solche ‚Begegnungen‘ von unverheirateten Paaren gestattete.
1968 betrachtet sie im Rückblick als eine ambivalente Phase ihres Lebens. Einerseits eröffnete ihr der intellektuelle und politische Aufbruch neue persönliche Perspektiven. Als besonders wichtig bezeichnet sie ihre Mitgliedschaft in der AgF (Arbeitsgemeinschaft für gewerkschaftliche Fragen) und ihre Tätigkeit in der gewerkschaftlichen Jugendbildungsarbeit, denn hier fand sie ihre Lebensaufgabe: von 1972 bis 2005 war sie hauptamtliche Gewerkschafterin beim DGB, bei der Gewerkschaft Handel, Banken und Versicherungen und zuletzt als Vorstandsmitglied bei der Gewerkschaft VerDi. Andererseits sieht sie heute die „Überhöhung unserer politischen Ziele und die teilweise dogmatische Enge“ als problematisch an.