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Zukunftsreihe "Marburg800 weiter denken"
Wie wollen wir die Zukunft denken und gestalten? Darum geht es auf dem Weg zum Stadtjubiläum 2022 mit der Reihe "Marburg800 weiter denken" rund um Zukunftsfragen und -perspektiven.
Die Palette der Themen von „Marburg800 weiter denken“ reicht vor dem Hintergrund einer 800-jährigen Geschichte als Stadt von sozialen Themen über Digitalisierung bis zur Frage, wie wir uns ernähren wollen oder zur Zukunft nach Corona. Denn, so die Idee des Stadtjubiläums, Marburg ist schon immer eine Stadt der Welt- und Gesellschaftsdeutungen mit praktisch orientierter Anwendung. Für diese lange Tradition steht nicht zuletzt das Wirken der Heiligen Elisabeth.
New York, Shanghai, Melbourne, Moskau - „and now Marburg“. Mit diesen Worten begrüßte Oberbürgermeister Dr. Thomas Spies vor mehr als 100 Gästen im nach 3G-Regeln gefüllten KFZ den international bekannten Stadtplaner Jan Gehl als den Mann, der bedeutende Städte grundlegend umgestaltet hat. „Den Menschen an die erste Stelle der Stadtplanung setzen“, beschrieb der 85-jährige Gehl in Marburg dabei sein „Cities for People“-Konzept.
Für die Zukunftsreihe „Marburg800 weiter denken“ hatte das Stadtjubiläum den Architekten und mehrfachen Ehrendoktor für einen dreitägigen Besuch in Marburg zum Jubiläumsschwerpunkt „Marburg erfinden“ gewinnen können. Den Abend und Vortrag eines gut aufgelegten Referenten im KFZ verfolgten zusätzlich im Livestream noch einmal 60 Menschen.
Bei seiner Begrüßung nahm Spies gleich auf die Ideen des renommierten Gastes Bezug, der den Begriff von der Stadtplanung nach „menschlichem Maßstab“ („human scale“) weltweit geprägt hat. Darauf gelte es sich zu konzentrieren, so Spies. Es gehe um Plätze, an denen Menschen sich willkommen und wohl fühlen, und zugleich darum, zu fragen, wo sie Unbehagen spüren, um dies zu verändern.
„Gute Städte für das 21. Jahrhundert sind Städte, in denen Menschen ein glückliches Leben führen“, betonte Gehl. Was sich zunächst selbstverständlich anhört, beschreibt ein grundlegendes Umdenken in der Städteplanung, für das der Autor zahlreicher Bücher mit seiner Arbeit seit 60 Jahren in Theorie und Praxis steht.
Marburgs prominenter Gast aus Dänemark erklärte das mit einem geschichtlichen Exkurs. Während historische Städte noch aus der „Ich-Perspektive“, für den Menschen als laufendes und soziales Wesen geplant worden seien, das sich für andere interessiert, sei dieses Planungsmodell mit dem Modernismus seit den 20er/30er-Jahren und der „Autoinvasion“ der 60er-Jahre über Bord geworfen worden. „Die Stadt sollte nun eine effektive Maschine sein statt eine Stadt der Räume für die Menschen“, erinnerte Gehl.
„Der Fokus hat sich verschoben und richtete sich nur auf Objekte und die Mobilität, die dazu dienen zu schlafen, zur Arbeit zu gehen und zurück“, erklärte der Stadtplaner. Die Räume zwischen den Gebäuden, die Treffpunkte, waren keine Grundlage der Planung mehr - obwohl seit Jahrhunderten bewährt. „Was passiert mit den Kindern, was, wenn Du alt wirst, wo gehst Du hin, wenn Du anderen Menschen spontan begegnen willst“, all das habe damit keine Rolle mehr gespielt. „Das soziale Leben wurde vergessen“, skizzierte es Gehl.
"Den Menschen an erste Stelle der Stadtplanung setzen"
„Aber es geht genau darum zu fragen, wie wir besser für die Menschen sorgen können. Die Stadtplanung müsse ihnen zeigen, dass sie willkommen sind, sie zum Bleiben und Verweilen einladen.“ Gehl plädierte für nachhaltige, gesunde, lebenswerte und menschenfreundliche Städte, in denen es sich gut alt werden lässt. Dafür müsse die Stadtplanung Lösungen anbieten.
Weiter betonte Gehl, dass in den letzten 50 Jahren der Stadtplanung alles dafür getan worden sei, „die Autos glücklich zu machen, nicht die Menschen“. „Eine Tonne Stahl auf vier Gummireifen für jeden Menschen“ - das sei in dichten Städten keine gute Idee, so der erfahrene Planer. Zumal die Autos zu 90 Prozent stünden und sich nicht bewegten. „Dafür gibt es in den Städten keinen Platz, viel mehr brauchen wir geteilte Nutzung“, erklärte er.
Gehl ist emeritierter Professor für Städtebau an der Royal Danish Academy of Fine Arts und Autor zahlreicher Bücher zur Stadtplanung. Mit Gehl Architects hat er selbst Städte wie London, Melbourne, Sydney, Amman, New York und Moskau nach dem Konzept „Cities für People“ fußgänger- und radfreundlich umgestaltet sowie Räume zum Aufenthalt geschaffen, etwa am Wasser. Nachdem der Anfang in Kopenhagen gemacht war, stand das Telefon vor internationalen Anfragen weltweit nicht mehr still. Gehl ist Ehrenmitglied von Architekturinstituten in Dänemark, England, Schottland, Irland, USA und Kanada sowie Ehrendoktor der Unis Edinburgh, Varna, Halifax und Toronto.
Gehl: Menschen einladen, zu laufen oder Rad zu fahren
Seine Devise: „Stellen Sie sicher, dass Sie die Menschen dazu einladen, zu laufen und Fahrrad zu fahren soweit das irgendwie möglich ist“, formulierte er es im KFZ. Dies sei auch gesundheitlich das beste Mittel gegen das „Sitz-Syndrom“ und eröffne völlig neue Möglichkeiten für Räume in der Stadt. Für Planer gelte „You get what you invite for“ („Sie bekommen, wozu Sie einladen“). Dazu gehörten zum Beispiel kurze Wege für Radfahrer oder sichere Kreuzungen, ÖPNV und Car-Sharing. „Meine Enkelin konnte im Alter von zwölf in Kopenhagen mit dem Rad überall sicher fahren“, erzählte Gehl. Es gehe nicht darum gegen Autos zu sein, sondern für die Menschen, dies sei die andere Seite der Medaille.
In der von Monika Bunk („Marburg erfinden“) anschließend moderierten Fragerunde des Publikums spitzte es der 85-jährige Stadtplaner in einer Antwort humorvoll zu: „Wir betreiben viel Recherche in jedem anderen Bereich, beschäftigen uns mit Walen oder mit dem Liebesleben von Elefanten, aber nicht mit unserem eigenen Leben.“ Publikumsbeiträge richteten den Fokus unter anderem auf das bergige Gelände Marburgs, auf Menschen im ländlichen Umfeld sowie auf die Frage nach möglichen Konflikten. In Sydney sei das Stadtoberhaupt nach der Umgestaltung viermal wiedergewählt worden. „Es geht darum, dass sich die Menschen in der Planung selbst wiedererkennen“, sagte Gehl.
Von Marburg hatte sich der Gast aus Dänemark bei einem Stadtrundgang und anschließender Fahrt im E-Bus Emil begleitet von Vertreter*innen der Stadt zuvor einen ersten Eindruck verschafft. Die Tour führte über Markt, Lutherischen Kirchhof, Oberstadtparkhaus, Alten Botanischen Garten, neue Unibibliothek, Waldtal, Spiegelslust, Uniklinik, Uni auf den Lahnbergen und Bauerbach bis zum Richtsberg. Die an Plätzen orientierte Altstadt habe ihn sehr beeindruckt. „Sie können sehr glücklich sein, dass diese nicht wie in anderen Städten zerstört wurde“, zeigte sich der Gast begeistert. Zugleich sei der Marburg-Besuch wie eine Zeitreise durch die Geschichte der Stadtplanung gewesen, etwa mit den Lahnbergen und dem Richtsberg, die für den Modernismus stünden oder mit der „Panoramastraße“ (Gehl: „ohne jedes Panorama“) und der Stadtautobahn, die sich an Autos orientierten. „Das würde man heute nicht mehr so machen“, so Gehl. Man sei an einem „Breaking Point“.
Stadtrundgang und Austausch mit Studierenden
Seine Ideen hatte er am Vormittag schon mit rund 80 Studierenden und Vertreter*innen von Universitäten und Fachhochschulen wissenschaftlich diskutiert. Am Tag nach der Diskussionsveranstaltung im KFZ hatte das Stadtjubiläum Marburg800 dann Kommunalpolitiker*innen, Magistrat und Menschen aus stadtplanerischen Initiativen der Stadtgesellschaft zum persönlichen Austausch mit Gehl, Oberbürgermeister Spies, Stadtplanerin Manuela Klug sowie GeWoBau-Geschäftsführer Jürgen Rausch eingeladen. Zur Frage „Was er durch die vielen anregenden Ideen aus internationalen Städten für Marburg gelernt habe?“, antwortete Marburgs Rathauschef: Für ihn sei es klares Ziel die von Jan Gehl so anschaulich erklärten Prinzipien in der Marburger Stadtplanung umzusetzen.
Als Beispiel dafür nannte er den Beteiligungsprozess “Move35“ mit Strategien für die Verkehrsentwicklung, um Marburg fußgängerfreundlicher und fahrradfreundlicher zu machen, aber auch um den Autoverkehr aus dem Umland in guter Weise in die Stadt zu kanalisieren. Weiter werde er überlegen, wie das Konzept der „Stadtplanung nach menschlichem Maßstab“ in die bauliche Entwicklung der Stadt einbezogen werden kann. Das gelte sowohl für Orte, an denen neue Dinge gebaut werden (wie die Planung am Hasenkopf mit reduziertem Autoverkehr), als auch für neue Ideen in bereits bestehender Bebauung.
Gespräch mit Politik und Initiativen
„Wir benötigen in Marburg zwar andere Lösungen als in Kopenhagen, allein aufgrund der Topographie, aber lebendig, nachhaltig, gesund und gut für die alten Menschen ist das, was wir auf jeden Fall haben wollen, der, menschliche Maßstab´ passt ausgezeichnet zum Geist der Stadt.“ Und Gehl fügte zum Abschied hinzu: „Lasst die Mentalität von vor 50 Jahren hinter euch. Ich wünsche euch das Beste für diese ungewöhnlich schöne Stadt."
English:
Lord Mayor Spies welcomes international planner Gehl and more than 100 guests: "Putting people first in urban planning"
Marburg. New York, Shanghai, Melbourne, Moscow - "and now Marburg." With these words, Lord Mayor Dr. Thomas Spies greeted internationally renowned urban planner Jan Gehl as the man who has fundamentally redesigned major cities in front of more than 100 guests in the KFZ, which was filled according to 3G rules. "Putting people first in urban planning," was how the 85-year-old Gehl described his "Cities for People" concept in Marburg.
For the future series "Marburg800 weiter denken" (thinking ahead) the team of the city anniversary had been able to win the architect and multiple honorary doctor for a three-day visit to Marburg in the frame of the anniversary focus "Marburg erfinden" (inventing Marburg). The evening and lecture of a speaker in good spirits in the KFZ were additionally followed by another 60 people via livestream.
In his welcome address, Spies immediately referred to the ideas of the renowned guest, who coined the term "human scale" in urban planning worldwide. According to Spies, this is what we need to focus on. It is about places where people feel welcome and comfortable, and at the same time about asking where they feel discomfort in order to change this.
"Good cities for the 21st century are cities where people live happy lives," Gehl emphasized. What sounds self-evident at first describes a fundamental rethinking of urban planning, which the author of numerous books has stood for with his work in theory and practice for 60 years.
Marburg's prominent guest from Denmark explained this with a historical digression. While historical cities had still been planned from the "I-perspective", for the human being as a walking and social being interested in others, this planning model had been thrown overboard with modernism since the 20s/30s and the "car invasion" of the 60s. "The city was now supposed to be an effective machine instead of a city of spaces for people," Gehl recalled.
"The focus has shifted and was directed only to objects and the mobility used to sleep, go to work and back," the urban planner explained. The spaces between buildings, the gathering places, were no longer a basis for planning - although tried and true for centuries. "What happens to the children, what happens when you grow old, where do you go when you want to meet other people spontaneously?" all of that ceased to matter, he said. "Social life was forgotten," Gehl outlined.
"But it's exactly about asking how we can take better care of people. Urban planning, he said, needs to show them they're welcome, invite them to stay and linger." Gehl pleaded for sustainable, healthy, livable and people-friendly cities in which it is possible to grow old well. He added that urban planning must offer solutions for this.
Gehl went on to emphasize that in the last 50 years of urban planning, everything has been done to "make the cars happy, not the people." "A ton of steel on four rubber tires for every person" - that's not a good idea in dense cities, the experienced planner said. Especially since 90 percent of the cars are stationary and not moving. "There's no room for that in cities, much more we need shared use," he explained.
Gehl is professor emeritus of urban planning at the Royal Danish Academy of Fine Arts and author of numerous books on urban planning. With Gehl Architects, he has himself redesigned cities such as London, Melbourne, Sydney, Amman, New York and Moscow to be pedestrian- and bike-friendly according to the "Cities for People" concept, as well as creating spaces for people to stay, such as along the waterfront. After the start was made in Copenhagen, the phone never stopped ringing with international inquiries worldwide. Gehl is an honorary member of architectural institutes in Denmark, England, Scotland, Ireland, the U.S. and Canada, and holds honorary doctorates from the universities of Edinburgh, Varna, Halifax and Toronto.
His motto: "Make sure you invite people to walk and cycle as much as possible". This, he said, is also the best remedy for the "sitting syndrome" from a health perspective and opens up entirely new possibilities for spaces in the city. For planners, "You get what you invite for" applies. This included, for example, short routes for cyclists or safe intersections, public transport and car-sharing. "My granddaughter was able to ride her bike safely everywhere in Copenhagen at the age of 12," Gehl told me. It is not about being against cars, but for people, this is the other side of the coin, he said.
In the audience Q&A session moderated by Monika Bunk ("Inventing Marburg") afterwards, the 85-year-old urban planner humorously pointed it out in one answer: "We do a lot of research in every other field, deal with whales or with the love lives of elephants, but not with our own lives." Audience contributions focused on Marburg's mountainous terrain, people in rural areas, and the question of potential conflicts, among other topics. In Sydney, he said, the city's leader has been re-elected four times after the transformation. "It's about people recognizing themselves in the planning," Gehl said.
The guest from Denmark had previously gained a first impression of Marburg during a city tour and subsequent ride in the "Emil" e-bus accompanied by representatives of the city. The tour led through the market, the Lutheran churchyard, the parking garage Oberstadt, the Old Botanical Garden, the new university library, Waldtal, Spiegelslust, the university clinic, the university on the Lahn hills and Bauerbach to the Richtsberg. He said he was very impressed by the old town, which is oriented around squares. "You can be very happy that this was not destroyed as in other cities," the guest was enthusiastic. At the same time, he said, the visit to Marburg was like a time travel through the history of urban planning, for example with the Lahnberge and the Richtsberg, which stand for modernism, or with the "Panoramastraße" (Gehl: "without any panorama") and the city highway, which were oriented toward cars. "You wouldn't do it that way today," Gehl said. One is at a "breaking point," he said.
In the morning, he had already discussed his ideas scientifically with around 80 students and representatives of universities and universities of applied sciences. On the day after the discussion event in the KFZ, the Marburg800 city anniversary then invited local politicians, magistrates and people from urban planning initiatives in the urban community to a personal exchange with Gehl, Mayor Spies, urban planner Manuela Klug and GeWoBau managing director Jürgen Rausch. To the question "What he learned for Marburg from the many inspiring ideas from international cities?", Marburg's mayor replied: For him, it is a clear goal to implement the principles so vividly explained by Jan Gehl in Marburg's urban planning.
As an example of this, he cited the "Move35" participation process with strategies for traffic development to make Marburg more pedestrian-friendly and bicycle-friendly, but also to channel car traffic from the surrounding area into the city in a good way. Further, he said, he would consider how the concept of "urban planning on a human scale" can be incorporated into the city's structural development. This, he said, applies both to places where new things are being built (such as the planning at Hasenkopf with reduced car traffic) and to new ideas in existing development.
"We do need different solutions in Marburg than in Copenhagen, just because of the topography, but vibrant, sustainable, healthy and good for the elderly is what we definitely want to have, the, 'human scale' fits perfectly with the spirit of the city." And Gehl added in parting, "Leave behind the mentality of 50 years ago. I wish you the best for this unusually beautiful city."
Im Archiv von Marburg800 finden Sie außerdem auf www.yve.tv/marburg800 die Aufzeichnungen der Livestream-Veranstaltungen:
- "Zukunft nach Corona" mit Trendforscher Matthias Horx
- "Häuser für die Unbehausten - Architektur für Obdachlose" mit dem internationalen Spezialisten für Soziales Bauen Alexander Hagner aus Wien
- Die Aufzeichnung des Vortrags "Transformation und Beteiligung" von Prof. Dr. Patrizia Nanz im Rahmen einer Tagung des Landkreises, mit dem Marburg800 hier kooperierte, finden Sie auf www.flashlight.video/allianztagung-2021
Die Zukunftsreihe als Teil von "Marburg erfinden"
Wie wollen wir die Zukunft denken und gestalten? Darum geht es auf dem Weg zum Stadtjubiläum 2022 mit der neuen Veranstaltungsreihe rund um Zukunftsfragen und -perspektiven. Aufgrund von Corona sind auch für die Veranstaltungsreihe selbst flexible Lösungen und dynamische Planungen gefragt. Über Aktualisierungen informieren wir Sie hier.